Archiv 2017-05

Literarisches Selbstporträt
Viele Bücher von Hanns-Joseph Ortheil drehen sich um die Themen Lesen, Schreiben und das Leben als Schriftsteller. Das liegt wohl daran, dass er nicht nur Kreatives Schreiben lehrt, sondern selbst auf einem ganz ungewöhnlichen Weg zum Schreiben fand. Davon handelt auch sein etwas älteres Buch „Das Element des Elefanten“.
Seine Mutter, eine Bibliothekarin, verlor nach grauenhaften Kriegserlebnissen die Sprache. So wurde für ihn die Stille, das Abgeschirmte und die wortlose Verständigung die Sphäre der Mutter. Mit zunehmendem Interesse nahm er wahr, wie sie sich in Bücher vertiefte und in einen Leserausch verfiel, der sich bald auch auf ihn übertrug. Dass Ortheil mit fünf Jahren seinen Autismus überwand, haben wir seinem Vater zu verdanken. Der Landvermesser nahm sich täglich einige Stunden Zeit, um mit seinem Sohn ausgedehnte Spaziergänge zu unternehmen und ihm alles, was sie sahen, als Vokabel einzuimpfen. Damit wurde Ortheils Sammelleidenschaft geweckt: Er setzte alles daran, den Besitz seiner Worte zu vergrößern. Es folgten Reisen an den Bodensee, nach Berlin und durch das Rheintal, bei denen er detaillierte Expeditionsberichte schrieb und alle Wege und Strecken, die sie zurücklegten, dokumentierte.
Die Gewohnheit, sich täglich Notizen über Begegnungen und Erlebtes zu machen, hat er bis heute beibehalten. Schreiben ist für ihn „ein Sich-Erinnern, ein Hervorlocken, eine Wegkreuzung all der Stimmen, die den Reisenden auf seinem Schreibweg begleiten“. Nun kann ich auch seine Vorliebe für Haikus nachvollziehen. Die Wanderschaft versteht er nämlich mehr im asiatischen Sinne und „verneigt sich vor den Kostbarkeiten des Lebens“. Rückblickend stellt er fest, dass er mit seinem fünfteiligen Romanzyklus den Kreis seines Elternhauses vermessen hat. Mit 19 Jahren wagt er, seine Heimat hinter sich zu lassen, und bricht nach Rom auf, um einen Roman über die Stadt im Stile Hemingways zu schreiben. Bis er diesen vollendet, hat er noch zahlreiche innere Krisen zu überwinden, an denen der Autor uns wieder einmal in brillanter Sprache teilhaben lässt.

Slow Food vom Feinsten
Wer schon einmal in Tokio war, hat sicher noch vor Augen, wie Tradition und Moderne aufeinanderprallen. Nicht selten steht eine alte Tempelanlage mit Zen-Garten zwischen zwei gläsernen Skyscrapers. Um diesen Gegensatz geht es auch in der japanischen TV-Serie "Osen". Schon die ersten Szenen sind bezeichnend: Während der unterforderte junge Koch Masato in einem angesagten modernen Restaurant mit seinem Schwert eine Show abzieht, schneidet der Chefkoch des traditionellen Restaurants Isshouan mit höchster Konzentration ein Stück rohen Thunfisch in Scheiben.
Masato kennt das Isshouan seit seiner Kindheit und beschließt, sich dort zu bewerben und wird sogleich angestellt. Er muss jedoch feststellen, dass er sich die Arbeit dort etwas anders vorgestellt hat. Die Leitung liegt mittlerweile in den Händen der Tochter, die schon am frühen Morgen ein paar Gläschen Sake zwitschert, die Mitarbeiter mit einem Hungerlohn und Masato mit niederen Arbeiten abspeist. Mehrmals schmeißt er das Handtuch und kehrt doch wieder reuevoll zurück, weil ihm trotz allem Osens Philosophie und ihre Hartnäckigkeit imponieren.
Zu meinen Lieblingsszenen zählt eine Kochshow, in der die völlig aus der Zeit gefallene Osen gegen eine Köchin auftritt, die dafür bekannt ist, die leckersten Gerichte in kürzester Zeit aus der Mikrowelle zu zaubern. Wie zu erwarten ist der TV-Star schon längst fertig, während Osen jeden Garnelenspieß bedächtig und liebevoll umdreht und den Lauch wie in einem meditativen Akt in Scheiben schneidet. Von Slow Food hatte ich ja schon zuvor gehört, doch diese Szene machte mir so richtig bewusst, was tatsächlich hinter dem Begriff steckt. Es ist bedauerlich, dass man im Alltag nicht die Muße findet, so zu kochen wie Osen es vormacht.
Neben viel witziger Unterhaltung habe ich in dieser Serie viel Interessantes über die kulinarische Tradition meiner Heimat gelernt, zum Beispiel wie Misopaste klassisch hergestellt wurde oder in welch langwierigem Prozess Bonitoflocken, auch Katsuobushi genannt, geräuchert und getrocknet wurden. Mich begeisterte auch Osens Einfallsreichtum, wenn es darum ging, für den Erhalt kulinarischer Traditionen oder schützenswerter Hand- und Bauwerke zu kämpfen. Die Serie ist ein Augenschmaus für alle, die sich für japanische Keramik, Textilien oder Dekoration interessieren.

Kraftpaket für ein erfülltes Leben
Wer wünscht sich nicht mehr Energie im Alltag, um die wachsende Zahl der Aufgaben stressfrei zu bewältigen und zugleich die vielfältigen Möglichkeiten des Lebens auszuschöpfen? Multitasking und weniger Schlaf scheinen keine Lösung zu sein. Bahar Yilmaz verrät uns einen anderen Weg. In ihrem Ratgeber „Empower yourself. Werde zum glücklichsten Menschen, den du kennst“ stellt sie uns eine Reihe von praktischen Tools und Übungen vor, mit denen wir unser Leben Schritt für Schritt nach unseren Wünschen gestalten können. Ziel ist keine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung, sondern ein Lebensstil, der unserem Naturell entspricht und uns ermöglicht, das volle Potenzial und die Energie, die in uns steckt, zu nutzen.
Bahar Yilmaz fordert uns gleich am Anfang auf, zu unserem eigenen Trainer zu werden und eine Bestandsaufnahme zu machen: Wo stehe ich? Was läuft gut? Wo gibt es Defizite? Die Übungen und Anleitungen dürften besonders visuell veranlagte Leser ansprechen. Ob „Why-Diamond“, Gravitations-, Stress- und Infinity-Zone oder Frequenz-Chart, die Autorin arbeitet viel mit Grafiken und Tabellen. Sehr aufschlussreich fand ich eine Liste mit 60 toxischen Emotionen und die zugehörigen Ressourcen, die deutlich macht, dass wir uns bewusst dafür entscheiden können, ein unangenehmes Gefühl oder einen vergangenen Schmerz loszulassen und ihn durch eine positive Empfindung zu ersetzen.
Das sogenannte Frequenz-Chart zeigt im Detail, was es bedeutet, wenn wir sagen, wir wünschen uns mehr Zufriedenheit und Glück im Leben. Mir gefällt der Ansatz, dass niedrige Schwingungen und negative Erlebnisse als Weckruf zu sehen sind, und uns anspornen sollen, uns weiterzuentwickeln. Auch stimme ich ihr zu, dass Neutralität und Mitgefühl in der heutigen Zeit wichtiger denn je sind, um andere Ansichten und Lebensweisen zuzulassen und die „flexibelste und kreativste Version von uns selbst“ zu trainieren.
Die Autorin nennt Beispiele aus Klientengesprächen und berichtet auch aus eigenen Erfahrungen. So geriet sie selbst einmal in eine Sackgasse, und fand nach dem Tiefpunkt ihres Lebens den Mut und Willen, zu neuen Ufern aufzubrechen. Ihr verständlicher Schreibstil und persönliche Ansprache auf Augenhöhe mit dem Leser erleichtern den Zugang zu schwierigeren Themen wie die Quantenphysik, Spiritualität und Bewusstseinsstretching. Mit den vorgestellten Power-Moves tat ich mich schwer; andererseits ertappte ich mich dabei, dass ich hier typischerweise an die im Buch erwähnten selbst erdachten Grenzen stieß. Alles, was einem befremdlich vorkommt, lehnt man impulsiv ab und kommt sich ‚blöd‘ vor, statt es einfach mal auszuprobieren.
Die „Empower yourself“-Reise hat mich von Station zu Station mehr begeistert. Bahar Yilmaz, die in ihrer Heimatstadt Ingolstadt und in der Schweiz auch Workshops gibt, schreibt aus tiefster Überzeugung, gibt Denkanstöße, um die Chancen unserer Selbstentfaltung zu erkennen, und führt uns durch ein praxisnahes und konsequentes Übungsprogramm.

Wilder Ritt in die Vergangenheit
Wenn ich in die Geschichte der Menschheit blicke, gibt es keine Zeit, in der ich lieber gelebt hätte als jetzt. Eine Zeitreise mit der Garantie, dass man jederzeit wieder ins Heute zurückkehren kann, dürfte dagegen ganz interessant sein – so wie es die Protagonisten in dem Buch „One damned thing after another“ von Jodi Taylor praktizieren. Eine von ihnen ist Madeleine Maxwell, kurz Max genannt. Sie bekommt von St Mary’s, einem Institut für Geschichtsforschung in der britischen Stadt Thirsk, ein Jobangebot als Historikerin. Zuvor muss sie sich allerdings in einer Reihe von abenteuerlichen und kräftezehrenden Tests bewähren. Ihr künftiger Beruf stellt schließlich hohe Anforderungen: Zeitreisen zu unternehmen, um historische Meilensteine zu studieren und zu dokumentieren, Antworten auf ungeklärte Fragen zu finden und bei alledem am Leben zu bleiben! Was sich gar nicht so einfach gestaltet, wenn man an Schauplätze wie den Ersten Weltkrieg, die Bibliothek von Alexandria oder in die Kreidezeit mitten in einen Pulk von Dinosauriern katapultiert wird.
Trotz der Gefahren, die ihre neue Stelle mit sich bringt, fühlt sich Max gut aufgehoben in ihrem Team voller intelligenter, wissbegieriger, aber auch exzentrischer Kollegen. Eine Bewährungsprobe jagt die nächste und sorgt für viele witzige Szenen, aber auch düstere und grausame Momente und Verluste, die ein wenig an die Harry Potter Reihe erinnern. An Action und unerwarteten Wendungen mangelt es wahrlich nicht, zum Beispiel wenn man erfährt, wie das Institut überhaupt entstanden ist. Die geschichtlichen Hintergründe kommen leider ein wenig zu kurz – mit Ausnahme der Kreidezeit, die wiederum zu viel Platz einnimmt. Was den temporeichen Roman trägt, sind vor allem die sympathische und sehr lebendig gezeichnete Hauptfigur Max und der typisch britische schwarze Humor. Jetzt, wo einem die Figuren so vertraut sind, ist man bereit für die nächsten Zeitreisen und Abenteuer, die sich über insgesamt acht Bände erstrecken.

Die Bibel für Janeites
„Jane Austen. Eine Entdeckungsreise durch ihre Welt“ ist ein Buch, das man allein wegen des wunderschönen Covers unbedingt haben möchte. Holly Ivins entführt uns darin in das Universum der weltberühmten Schriftstellerin und ihrer romantischen Klassiker. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich mehr Verfilmungen gesehen als Romane von ihr gelesen habe. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass ich für ihr Schaffen, ihren Wortwitz und ihren bedeutenden Einfluss auf die Literatur größten Respekt und Bewunderung hege. Wer war diese Frau, die zu den erfolgreichsten Schriftstellerinnen zählt und begeisterte Leserinnen dazu inspirierte, Fanclubs zu gründen? Antworten finden wir in dieser Austen-Bibel, die einen 360-Grad-Blick auf ihr Leben und ihre Werke erlaubt.
Holly Ivins stellt uns jedes Mitglied der Austen-Familie einzeln vor – allesamt leidenschaftliche Leser – und beschreibt das Umfeld, in dem Jane aufwuchs und zum Schreiben ermutigt wurde. Wir lernen ihre verschiedenen Lebensstationen in Hampshire kennen, darunter Chawton, wo sie die schaffensreichsten Jahre verbrachte. Sehr aufschlussreich ist auch der politische und gesellschaftliche Hintergrund, der sich in ihren Romanen widerspiegelt. Die Autorin geht auf die strenge Etikette der Regency-Zeit ein, in der die Menschen strikt nach Vermögen und Rang eingestuft wurden und sich ihrer Stellung entsprechend zu verhalten hatten. So begreift man schnell, warum sich bestimmte Figuren wie Harriet Smith in dem Roman „Emma“ so und nicht anders verhalten haben, welche Fertigkeiten von Frauen erwartet wurden oder dass sich junge Leute nur auf Tanzabenden näherkommen konnten.
Bei der Lektüre kommt man sich vor wie in einem lockeren und unterhaltsamen Dialog mit einer leidenschaftlichen Austen-Expertin, die ihre Kenntnisse mit vielen Anekdoten und nützlichen Hinweisen würzt. So lädt sie uns dazu ein, die Entdeckungsreise auf eigene Faust zu erweitern – indem wir zum Beispiel Austens Mahagoni-Schreibtisch in der Schatzkammer der British Library in London besichtigen oder die vielen Landsitze, die als Schauplatz dienten, abklappern. Wahre Fans, auch Janeites genannt, könnten sich die Atmosphäre aus ihren Büchern mit einer typischen Mahlzeit oder Kartenspielen am Abend ins Haus holen.
Zum Schluss bekommen wir einen kompakten Überblick über ihre Werke, die einzelnen Protagonisten und literarischen Motive. Holly Ivins stellt besondere Momente heraus und verrät uns, was man von den Heldinnen heute noch lernen kann. Dieser Teil mag etwas ermüdend sein, dient jedoch als nützliches Nachschlagewerk. So hat das Büchlein bei mir die Lust geweckt, mir noch unbekannte Romane wie „Northanger Abbey“ zu lesen. Das Schöne ist ja, dass sich an manchen Themen wie den stürmischen Gefühlen und Schwierigkeiten bei der Partnerwahl bis heute nichts geändert hat. Das zeigen nicht nur die modernen Adaptionen wie „Bridget Jones“, sondern auch aktuelle japanische Fernsehserien. Diese st ellen gerne Heldinnen, die von der Norm abweichen, in den Mittelpunkt – genau wie Elisabeth Bennett aus „Stolz und Vorurteil“, mit Abstand meine Lieblingsfigur in Austens Romanwelt.

Wild und unbezähmbar
Ich habe den Eindruck, dass es noch nie so viele Bücher gab, die uns helfen wollen, ein glückliches Leben zu führen. Der Bedarf scheint groß zu sein – was mich in Zeiten wie diese auch nicht wundert. Auf der einen Seite haben wir immer mehr praktische und technische Möglichkeiten, um ein zunehmend selbstbestimmtes Leben zu führen – auf der anderen Seite steigen entsprechend auch die Erwartungen an uns. Oder zumindest glauben wir dies.
Thomas Hohensee, Autor und Coach für Persönlichkeitsentwicklung aus Berlin, hat ein markantes und treffendes Bild gewählt, um zu veranschaulichen, wie wir seiner Ansicht nach den heutigen Herausforderungen am besten begegnen können: mit den Eigenschaften eines Löwenzahns. Dieser ist widerstandsfähig, freut sich daran, etwas Alltägliches zu sein, hat sich eine Wildheit bewahrt und gedeiht fast überall. Sein aktuelles Buch „Die Löwenzahn-Strategie“ ist passenderweise im Frühling erschienen, wo alles im Zeichen der Erneuerung und des Aufblühens steht – die beste Zeit also, um uns Gedanken darüber zu machen, was unsere ureigene Aufgabe ist und unsere verborgenen Herzenswünsche und Talente zum Leben zu erwecken.
Der Autor stellt zehn „Löwenzahn-Strategien“ vor, die uns dabei unterstützen können, den Ernst des Lebens abzumildern zugunsten eines glücklichen und erfüllten Lebens. Wie sich zeigt, eignet sich das Bild des Löwenzahns sehr gut, um Themen wie Lebenssinn, Selbstwert, Positive Psychologie – im Englischen „Flourishing“ – und Resilienz zu vermitteln. Mit persönlichen Erfahrungen hält sich Hohensee zurück und gibt dafür interessante Denkanstöße, zum Beispiel, dass der Glaube, machtlos zu sein, an erlernter Hilflosigkeit liegen kann. Oder dass Menschen, die sich nach mehr Freiheit und Abenteuer im Leben sehnen, in der Lage sein sollten, die Freiheit auch auszuhalten und zu nutzen.
Seine Gedanken und Empfehlungen stellt Thomas Hohensee in kompakter Form und verständlich dar. Alle Strategien werden am Ende des jeweiligen Kapitels kurz zusammengefasst. Einsteiger, die ihrem persönlichen Lebensglück auf die Sprünge helfen wollen und sich fragen, wo sie im Alltag am besten ansetzen können, finden in diesem Büchlein sicher viele Anregungen. Wer sich bereits ausführlicher mit der Thematik beschäftigt hat, wird eher eine Bestätigung seines Wissens finden.

Die Geschichte bin ich
Experimentierfreudige Schriftsteller sind immer wieder auf der Suche nach einer neuen literarischen Form, die den Leser verblüffen könnte. Jasper Gwyn, Hauptfigur des Romans „Mr. Gwyn“ von Alessandro Baricco scheint sie gefunden zu haben. Er beschließt, Kopist zu werden und Porträts zu verfassen. Damit sind keineswegs Biografien gemeint; das Wort „Porträt“ ist durchaus wörtlich zu verstehen. Eigentlich wollte Mr. Gwyn gar nicht mehr schreiben, weder Romane noch Artikel für den Guardian, worüber sein Literaturagent Tom ganz und gar nicht erfreut ist. Nach einer Weile vermisst er jedoch das Schreiben und startet einen neuen Lebensabschnitt als Kopist. Für diese Tätigkeit mietet er ein Atelier, dass er nach seinen exakten Vorstellungen gestalten lässt. Allein die idealen Arbeitsbedingungen zu schaffen, wird zu einem künstlerischer Akt.
Mit Spannung verfolgt der Leser, wie die Arbeitsstätte mit eigens komponierter Hintergrundmusik und handgefertigten Glühbirnen Gestalt annimmt. Nun kann Mr. Gwyn endlich seine erste Kundin Rebecca empfangen. Ihre Aufgabe besteht lediglich darin, mehrere Stunden am Tag unbekleidet im Atelier zu verbringen. Baricco beschreibt die Sitzungen, in denen sich der Porträtist ganz in das Modell versenkt und aus der reinen Beobachtung eine Geschichte schreibt, die Rebecca und ihren wahren Kern widerspiegeln soll, atmosphärisch dicht. Währenddessen gewöhnt sich das Modell, ausschließlich dem Blick des Künstlers ausgeliefert zu sein. Dadurch, dass es nichts anderes mehr darstellt als den eigenen Körper, legt es alle überflüssigen Rollen und Masken ab, fühlt sich zunehmend befreit und bewegt sich immer natürlicher.
Ergreifend ist der Moment, als sich Rebecca tatsächlich in dem fertiggestellten Porträt wieder erkennt, nicht in einer Figur, wie man annehmen könnte, sondern in der Geschichte als Gesamtheit, in ihrer Atmosphäre, ihrem Tempo, ihrer Landschaft. Das Thema Neuanfang wird in diesem Roman auf sehr einfallsreiche Weise umgesetzt: Mr. Gwyn macht Tabula Rasa mit seinem bisherigen Leben, schafft für seine Kunden einen besonderen Raum, und gibt ihnen darin die Möglichkeit, sich auf eine neue Art zu erleben und ihr wahres Ich zu entdecken.

Das Leben ist kein Tanzsaal
Dass Prinzessinnen nicht zu beneiden sind, wissen wir spätestens seit dem Film „Ein Herz und eine Krone“ mit Audrey Hepburn. Ähnlich wie Prinzessin Anne geht es Marie, eine der Hauptfiguren des Romans „Fürstinnen“ von Eduard von Keyserling. Die Geschichte spielt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf einem baltischen Landsitz. Im Gegensatz zu ihren zwei älteren Schwestern, die sich mit standesgemäßen Fürstenhochzeiten und vorbestimmten Lebenswegen zufriedengeben, spürt Marie immer mehr den Drang, aus den Gemäuern von Schloss Birkenstein auszubrechen.
Ein einschneidendes Erlebnis ist ein kleiner Ausflug in den Wald mit ein paar Jungs aus der Nachbarschaft, darunter Felix, der aufmüpfige Sohn des Grafen von Dühnen. Zum ersten Mal schnuppert Marie die Luft der weiten Welt, fühlt sich lebendig, auch ein wenig verliebt, und will nicht länger aus diesem aufregenden Leben voller Versprechungen ausgeschlossen werden. Sie wird süchtig nach neuen Impulsen, nach dem „Süßen, Verbotenen, Wilden des Lebens“. Ihre Freundin Hilda von Üchlitz ermutigt sie dazu, ein „modernes Mädchen“ zu sein und statt Männer von der Ferne anzuschmachten, selbst zu handeln – zum großen Missfallen von Tante Agnes. Diese ist der Auffassung, dass unverheiratete Prinzessinnen zumindest etwas Sinnvolles tun sollten wie eine Näh- oder Kochschule zu gründen.
Mit ironischem Unterton lädt uns Keyserling in den Kosmos der aristokratischen Gesellschaft ein, die dem Untergang geweiht ist, und verdichtet größere Zusammenhänge in prägnante Sätze. Wenn er über Räume spricht, die zu viel wissen, und über die Trägheit, die von alten Dingen ausgeht, spürt man allzu deutlich, wie groß die Sehnsucht nach Freiheit und Spontanität ist. Die zwanghaften Teestunden am Nachmittag und die langweiligen Abende im Gartensaal, die Marie erdulden muss, stehen im starken Kontrast zu den Ausflügen in die Natur und den aufregenden Theaterbesuchen. Die kritische Milieustudie bereichert der Autor durch üppige Naturbeschreibungen und poetischen Stimmungsbildern. Es ist fast so, als würde man in ein zartes Landschaftsgemälde versinken.

Die ewige Nummer Zwei
Fällt man bei der Partnerwahl tatsächlich immer in das gleiche Muster? Nach der Lektüre des Romans „Unvollkommene Verbindlichkeiten“ von Lena Andersson müsste man die Frage bejahen. Mit der Fortsetzung ihres Buchs „Widerrechtliche Inbesitznahme“ lässt uns die schwedische Schriftstellerin erneut teilhaben am Liebesleben von Ester Nilsson, das einmal mehr in eine Katastrophe mündet.
Anscheinend hat Ester nichts aus ihrer vergangenen Beziehung zu dem Künstler Hugo Rask gelernt. Wieder verliebt sie sich in einen Mann, der sich nicht festlegen will. Verliebt ist stark untertrieben, denn wenn die Dichterin und Essayistin sich erst einmal für jemanden entschieden hat, gibt sie sich ihm mit Haut und Haaren hin. Alles andere existiert für sie nicht mehr. Der Auserkorene heißt diesmal Olof Sten, ist Theaterschauspieler, verheiratet und betont, dass er keine Beziehung mit Ester eingehen kann. Trotzdem trifft er sich immer wieder heimlich mit ihr und nährt Esters Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft.
Die Autorin beherrscht es meisterhaft, das nervenaufreibende Verhältnis zwischen den beiden bis aufs Kleinste zu sezieren – sowohl dramaturgisch als auch sprachlich. Sie sind wie Zahnräder, die sich antreiben – intellektuell, körperlich und verbal, was leider häufig zu Fehldeutungen führt. Es ist eine ewige Wiederholung von Annäherung und Abstoßung, von Hoffnung und Niedergeschmettert-Sein, von ekstatischem Glücksgefühl und Todessehnsucht. So grausam es klingt, ich könnte diese Geschichte von Ester und Olof ewig weiterlesen, weil diese verrückte Dynamik und Spannung zwischen ihnen jeden Psychothriller übertrifft. Die höchst gegensätzlichen Figuren werden so präzise charakterisiert, dass man ihren jeweiligen nächsten Schritt fast vorhersagen kann – zumindest den von Ester, die sich nur Klarheit und Aufrichtigkeit wünscht. Immer wieder versucht sie, ihren Intellekt und ihr sprachliches Wissen – ihre stärksten und einzigen Waffen – zu nutzen, um Olofs Verhalten zu begreifen. Auch dieser Aspekt macht dieses Liebesdrama zwischen der Existenzialistin und dem Fatalisten zu einer literarisch höchst anspruchsvollen Lektüre, die den Leser emotional sehr stark fordert und ähnlich wie Esters Gefühle in einen (Lese-)Rausch versetzt.

Schaffensräume und Lebensträume
Der Ich-Erzähler in dem Roman „Ein Satz an Herrn Müller“ von Elmar Tannert hat ein besonderes Anliegen: Er wünscht sich von dem Raumausstatter Horst Müller, den er in einer Tankstelle kennenlernte, einen Entwurf für seine künftige Wohnung. Ungewöhnlich ist die Form seines Auftrags: Er schreibt Herrn Müller einen Brief über 250 Seiten, der aus einem einzigen Satz besteht.
Schnell wird klar, dass er sich keineswegs mit einer 08/15-Lösung zufrieden gibt. Seine Ansprüche sind hoch, seine Wünsche speziell: Er ist ein Wohnungsflüchter, der sich eine Hausbar mit begrenzten Öffnungszeiten und ein Badezimmer ohne Badewanne vorstellt. Das Bild seiner Idealwohnung bleibt allerdings vage, da der Erzähler immer wieder vom eigentlichen Thema abschweift und sich in leidvollen Erinnerungen an seine Geliebte und in Reflexionen über das Schriftstellerdasein verliert. War soeben noch vom Arbeitszimmer die Rede, das als Kulisse für Fotografen dienen muss, lässt er sich darüber aus, wie wenig er von den Konterfeis hält, die die Buchumschläge zieren. Er sinniert darüber, warum es ein Maler besser hat als ein Schriftsteller, prangert politische Missstände an und stellt eine Menge provokativer Fragen, zum Beispiel ob der Mensch eine Religion brauche.
Jeder Absatz im Buch bietet Gelegenheit, kurz Luft zu holen, um sich in den nächsten Gedankenstrom zu stürzen. So liest sich der längste Satz, der mir bisher untergekommen ist, recht flüssig. Allmählich wurde mir klar, warum der Erzähler seinen Satz partout nicht beenden will und seine Überlegungen immer weiterspinnt: Eine zentrale Metapher schien mir der Kreislauf zu sein, der sich durch verschiedenen Themen zieht. Er philosophiert über Lebensstadien, von der Geburt bis zum „Gefühl, tot zu sein“, spricht vom Leben aus der Sehnsucht statt aus der Erfüllung. Sogar das jämmerliche Schicksal von Kartoffelchips geht ihm nahe. Sein Sprachstil ist anspruchsvoll und pointiert. Wer gerne Bücher über den Sinn des Lebens, künstlerisches Schaffen und Lebensträume liest, wird auf seine Kosten kommen. Der Wohnausstatter gestaltet reale Räume, der Schriftsteller Innenwelten – beides ineinander fließen zu lassen, ist eine geniale Idee. Für meinen Geschmack kam der Part der Raumgestaltung etwas zu kurz, hier hätte ich mir noch mehr Details gewünscht. Zwischendurch stellte ich mir vor, wie Herr Müller wohl auf den Brief reagieren würde. Das wäre doch ein interessanter Stoff für einen Fortsetzungsroman!

Lesegenuss in 12 Gängen
Es sind schon einige Schriftsteller auf die Idee gekommen, eine Sammlung ihrer persönlichen Buchempfehlungen zusammenzustellen und zu veröffentlichen. Hanns-Josef Ortheil macht dies allerdings auf eine höchst originelle und elegante Weise: In „Lesehunger – Ein Bücher-Menü in 12 Gängen“ lädt er uns zu einem Zwiegespräch ein, das zugleich den Appetit und Geist anregt.
Zunächst erläutert er, wie Lesen und Schreiben durch Raumerfahrungen geprägt werden. Schriftsteller, so sagt er, suchen Wohnungen danach aus, ob sie zum Lesen und Schreiben geeignet sind. Ortheil fand sein ideales Fleckchen an einem Stuttgarter Hang. In seinem weitläufigen Anwesen wechselt er je nach Art der Lektüre gern die Location. Die zum Lesen und Rezensieren frisch eingetroffene Ware landet in einem gläsernen Vorraum, der „Empfangs- und Probier-Station“, in der die Bücher beschnuppert und sortiert werden. Von dort aus finden sie ihren Weg zu den verschiedenen Leseräumen wie das Gartenhaus, die Küche oder das Arbeit- oder Gästezimmer.
Wir begleiten Ortheil Kapitel für Kapitel in seine verschiedenen Bibliotheken. Die Küche zum Beispiel ist für ihn ein offener und geselliger Raum, in dem er von seiner Lektüre unterhalten werden möchte wie in einem anregenden Gespräch mit Gästen. Sie ist daher sein bevorzugter Ort, um Essays zu lesen. Seine Leidenschaft für Briefe, literarische Essays und Tagebücher wurde vor allem durch französische Autoren wie André Breton geweckt. Er selbst pflegt seit frühesten Jahren, alles Erlebte und Gelesene in Form von Notizen und Aufzeichnungen festzuhalten. Mir gefällt sein Ansatz, dass die Lektüre einen tieferen Sinne bekommt, wenn er auf das Gelesene reagiert, zum Beispiel in Form von Kommentaren oder eigenen Geschichten. Auch die Erfahrung, dass man sich viel lieber in ein gutes Buch vertiefen würde, als dummem Geschwätz ausgeliefert zu sein, kenne ich nur zu gut. So vielfältig wie die Räumlichkeiten sind auch seine Buchempfehlungen – von Garten- und Kochbüchern über Gedichtbände und Reisebegleiter bis hin zu Lifestyle-Titeln.
Ortheils 12-Gänge-Menü ist ein köstliches Vergnügen, das dazu animiert, unterschiedliche Lesearten auszuprobieren und sie mit sinnlichen und atmosphärischen Erfahrungen zu bereichern. Außerdem hat es meinen Lesehunger auf viele neue interessante Bücher geweckt, zum Beispiel auf „Tage des Lesens“ von Marcel Proust oder „Kleine Weisheiten für Reiselustige“, die ich euch demnächst vorstellen werde.