Archiv 2017-04

Ist Gerechtigkeit möglich?
Wie in dem zuletzt vorgestellten Film „Glass House“ hatte ich es wieder einmal mit einer Geschichte zu tun, in der sich der Sohn gegen seinen strengen und bornierten Vater auflehnt. Diese spielt allerdings vor hundert Jahren im Wilhelminischen Zeitalter und trägt den Titel: „Der Fall Maurizius“. Den Autor Jakob Wassermann entdeckte ich durch seinen grandiosen Roman „Faber – Die verlorenen Jahre“ und brachte mich auf seine Trilogie rund um die Figur Etzel Angergast.
In diesem ersten Buch stößt der 16-jährige Etzel auf den titelgebenden Fall Maurizius, der für seinen Vater, der damals als Staatsanwalt die Anklage vertrat, längst abgeschlossen ist. Vor 19 Jahren wurde Leonhart Maurizius in einem Indizienprozess für den Mord an seine Frau verantwortlich gemacht und zu lebenslänglicher Haft verurteilt, obwohl er seine Unschuld beteuerte. Eine merkwürdige Begegnung mit dem Vater des Häftlings, dessen Begnadigungsbitte und seine mitgebrachten Unterlagen wecken Etzels Interesse für den Fall. Je näher er sich mit den Akten beschäftigt, desto mehr zweifelt er an der Aussage des Kronzeugen Waremme und beschließt, ihn in Berlin aufzusuchen.
Und damit beginnt ein Familiendrama, das an psychologischer Finesse, schockierenden Verstrickungen und zerstörerischer Kraft kaum zu überbieten ist. Etzel verlässt das Elternhaus, um die Unschuld Maurizius’ zu beweisen. Das zwingt den entsetzten Vater, den Fall zu rekapitulieren. Ein Gespräch mit dem Häftling erschüttert schließlich sein Weltbild. Sprachlich virtuos beschreibt Jakob Wassermann, wie aus dem anfangs von allen respektierte, selbstgerechte Staatsanwalt, der streng nach seinen Prinzipien lebte, ein gebrochener, hilfloser Mann wird. Der Roman dreht sich um die Themen Gerechtigkeitssinn, Identitätssuche sowie krankhafte Liebe und zeigt auf beklemmende Weise, wie schnell ein geregeltes Leben aus den Fugen geraten kann. Zuletzt steht man vor der großen Frage: Ist Gerechtigkeit in dieser Welt überhaupt möglich?

Und dann kam Rei
„Ich wünschte, das Drehbuch wäre von mir gewesen.“ Das war mein erster Gedanke, nachdem ich die japanische Serie „The House of Glass" gesehen habe. Sie handelt von einem alleinerziehenden Vater und seinen zwei erwachsenen Söhnen, die auf dem ersten Blick ein harmonisches und friedliches Leben führen. Der frühe Tod der Mutter bei einem Flugzeugabsturz hat die Familie zusammengeschweißt. Ihre Beziehung zueinander ist durch Vertrauen und Respekt geprägt.
Das ändert sich, als der Vater die knapp zehn Jahre jüngere Rei heiratet, deren Eltern auf die gleiche Weise umkamen wie seine Frau. Rei ist hübsch, kommunikativ, freut sich über ihre neue Familie und bringt einen neuen Touch hinein – etwas Fröhliches, Feminines, was den strengen Regeln des Haushalts ganz gut tut … würde man meinen, doch das Gegenteil ist der Fall. Nach einigen Monaten des Zusammenlebens zeigen sich die ersten Risse. Der ältere Sohn Hitoshi fühlt sich zunehmend zu Rei hingezogen, während die Eifersucht seines Vaters immer bedrohlicher wächst.
Diese Wendung allein wäre noch nicht der Rede wert. Interessant ist vielmehr, dass erst durch Reis Erscheinen deutlich wird, wieviele Unstimmigkeiten und Konflikte schon vorher in der Familie schlummerten. Hitoshi ging 30 Jahre den Weg, den sein Vater ihm vorgab ohne ihn anzuzweifeln. Er stellt jedoch fest, dass nicht nur ihre politischen Ansichten und beruflichen Ziele immer mehr voneinander abweichen, sondern dass er sich noch nie Gedanken über andere Optionen gemacht hat. Seine Liebe zu Rei und das unberechenbare und korrupte Verhalten seines Vaters sind nur der Auslöser dafür, dass Hitoshi sein Leben und seine Ziele neu definiert und den Mut fasst, sich gegen seinen Vater aufzulehnen. Seine innere Zerrissenheit zwischen Schuldgefühlen und Loyalität einerseits und seinem Rebellionsdrang andererseits wird von Japans beliebtem Darsteller Takumi Saitoh sehr überzeugend gespielt.
Auch sein jüngerer Bruder Kenji, der sich bisher immer auf die Seite des Vaters schlug, muss sich eingestehen, dass sein Vater Herrschsucht und Kontrollzwang mit Liebe verwechselt. Dies begreift er erst, als er sich selbst in Hitoshis Ex verliebt – eine erfolgreiche Schriftstellerin, die dieses tragische Familiendrama zu einem Roman verarbeitet mit dem Titel „The House of Glass“ und damit einen Bestseller landet. Wen wundert’s – es ist ein starkes Drehbuch, das ich wie gesagt gern selbst geschrieben hätte.

Malen, um nicht verrückt zu werden
Zum Welttag des Buches möchte ich Euch eine Roman-Biografie vorstellen, die uns auf faszinierende Weise eine Künstler-Persönlichkeit und die Zeitgeschichte näher bringt. Wie schafft es eine Frau, die mehrere Suizide in der Familie und die Judenverfolgung miterleben musste, ihren Lebenswillen nicht zu verlieren und der Nachwelt ein autobiografisches Gesamtkunstwerk zu hinterlassen? Die Rede ist von Charlotte Salomon, und eine Antwort auf die Frage liefert uns Margret Greiner in „Charlotte Salomon – Es ist mein ganzes Leben“.
Vor ihrer Deportation malte Charlotte Salomon knapp zwei Jahre lang wie eine Besessene, um nicht verrückt zu werden, bannte rückblickend ihr gesamtes Leben auf Gouachen im expressionistischen Stil. So entstand ein gemalter Lebenszyklus von etwa 800 Bildern, angefangen mit ihrer Kindheit und dem großbürgerlichen Leben in einer jüdischen Berliner Familie. Margret Greiner vermittelt uns zunächst das Bild eines sehr lebhaften, trotzköpfigen und besitzergreifenden Mädchens, das nach dem Tod ihrer Mutter von diversen Kindermädchen erzogen wird, darunter eines, das ihre Lust auf das Zeichnen und Malen weckt.
Zwei Männern in ihrem Leben haben wir wohl zu verdanken, dass Charlotte ihrer Berufung als Malerin folgte: Einerseits ihrem Vater, der trotz anfänglicher Rückschläge fest an ihr Talent glaubte, bis Charlotte schließlich auf die Berliner Hochschule für die bildenden Künste zugelassen wurde; andererseits ihrer große Liebe zu einem Gesangslehrer, der fest davon überzeugt war, Charlotte würde etwas Außerordentliches vollbringen, und ihr zu mehr Selbstachtung verhalf.
Auch die Frauenfiguren, die in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielten, werden facettenreich charakterisiert – stets aus der Sicht von Charlotte. Ihr Hang zu starken Gefühlsausbrüchen zeigt sich besonders in der Beziehung zu ihrer Stiefmutter und gefeierten Opernsängerin, die sie abgöttisch verehrt. Paula Lindberg, von Charlotte liebevoll Paulinka genannt, schafft es, durch ihre überschwängliche und herzliche Art Charlottes Lebensfreude zu wecken. Im krassen Gegensatz dazu steht Charlottes Verhältnis zu ihren Großeltern, die nach Villefranche emigriert sind und mit denen sie nach Hitlers Machtergreifung eine qualvolle Zeit verlebt. Sie zieht sich schließlich in eine Pension in Saint Jean Cap Ferrat zurück, wo sie mit ihrem Lebensprojekt beginnt.
In kurzen Einschüben beschreibt Margret Greiner, wie Charlotte ein Ereignis in ihrem Leben oder einen Gemütszustand malerisch festhielt. Anhand der angegebenen Nummern kann man einen Teil der Gouachen im Buch, die übrigen auf einer Website betrachten. In dieser hervorragend recherchierten Biografie lässt die Autorin Charlottes Persönlichkeit und ihren Charakter so erspüren, als würden wir in einem Tagebuch lesen. Dabei verzichtet sie auf Sentimentalitäten und öffnet in einer bildreichen Sprache den Blick für Charlottes bewegendes Leben und ihre Bilderwelt.

Eine Ehefrau rastet aus
Die Story der britischen Mini-Serie „Doctor Foster“ von BBC, die im Aberystwyth in Wales spielt, ist recht simpel: Eine erfolgreiche Ärztin findet heraus, dass ihr Mann sie mit einer jüngeren Frau betrügt und startet einen Rachefeldzug. Für so ein triviales Thema möchte man seinen Feierabend eigentlich nicht opfern, doch spätestens in der zweiten Folge ist man in dem Netz, das die Protagonistin Gemma Foster immer weiterspinnt, gefangen. Zu ihrem Entsetzen kommen nämlich neben dem Ehebetrug weitere Geheimnisse zum Vorschein. Einerseits klammert sie sich verzweifelt an der Hoffnung, dass sie ihre Ehe noch retten kann und sich alles zum Guten wendet, andererseits sprechen immer mehr Fakten dagegen.
Der Schock, dass ihr Eheleben in den letzten zwei Jahren eine komplette Lüge war und ihre Freunde und Kollegen teilweise davon wussten, ist für Gemma schwerer zu verkraften als die Untreue ihres Mannes und ihre verletzten Gefühle. Sympathieträger sind in dieser Geschichte nur schwer zu finden. Emma ist zwar clever, aber auch skrupellos und gefühlskalt, ihr Mann ein liebevoller Vater, aber erbärmlicher Ehe- und Geschäftsmann. Gut ausgearbeitet sind auch die Nebenfiguren wie die Geliebte des Mannes oder die Nachbarn der Fosters, die ein eigenartiges Arrangement gefunden haben, damit ihre Ehe funktioniert. Sprüche wie „Es gibt keine treuen Ehemänner – der Unterschied liegt nur darin, ob sie damit durchkommen oder nicht“ lassen einen nicht unberührt. Die tempo- und wendungsreiche Serie mit einer nervenaufreibenden Eskalation, in der man nie weiß, wer welches Spielchen treibt, ist gewiss nichts für schwache Nerven.

Die Zukunft liegt in unseren Händen
Der Titel allein hätte vermutlich nicht mein Interesse geweckt. In „Die Geschichte der Bienen“ von Maja Lunde geht es aber um weit mehr als die Imkerei. Raffiniert ist schon der Aufbau: drei Handlungsstränge aus verschiedenen Zeitepochen werden im Wechsel weitergesponnen und im großen Finale zusammengeführt.
Die Geschichte des Biologen William spielt in England im Jahr 1852. Seine Leidenschaft für Bienen und sein Forschungsdrang werden nach einer langen Phase der Enttäuschung und Lethargie durch ein Buch über die Imkerei neu entfacht. Seine Familie erwartet jedoch von ihm, dass er sich um das Saatgutgeschäft kümmert und die Familie ernährt, statt an neuartigen Bienenstöcken herumzutüfteln. Auch George, Protagonist der zweiten Geschichte, die 2007 in Ohio spielt, stößt auf wenig Verständnis, wenn es um die Haltung und die Zukunft seiner Bienenstöcke geht. Er ging fest davon aus, dass sein Sohn Tom den Hof übernimmt – dieser will jedoch Journalist werden und hat im Familientwist die Mutter auf seiner Seite. Ein beängstigendes Zukunftsszenario entfaltet die dritte Handlung, die im Jahr 2098 angesiedelt ist. Nach einem weltweiten Bienensterben müssen die Blumen per Hand bestäubt werden. Inmitten dieser trostlosen Welt erleidet im chinesischen Sichuan der kleine Sohn des Paares Tao und Kuan einen mysteriösen Unfall und verschwindet.
Trotz der unterschiedlichen Figuren, Schauplätze und Zeitebenen liest sich der Roman sehr flüssig. Alle drei Geschichten werden aus der Ich-Perspektive erzählt, so dass man schnell in das jeweilige Geschehen und die Gefühlswelten der Protagonisten hineinfindet. Hilfreich ist auch, dass der Name der Hauptfigur auf jeder Seite unten abgedruckt ist. Sehr nahe ging mir die Beschreibung der zwischenmenschlichen Konflikte, die sich wie ein roter Faden durch den Roman ziehen. William kann sich nur schwer mit seiner Rolle als Händler und reiner Ernährer der Familie abfinden, die er als „Fass ohne Boden“ empfindet; George will mit seiner Bienenzucht ein Erbe hinterlassen und kann sich ein beschauliches Leben in Gulf Harbors, das sich seine Frau so sehr wünscht, nicht vorstellen. Auch die Beziehung zwischen Tao und Kuan wird durch den Unfall des Sohnes auf die Probe gestellt. Die verzweifelten Gesten, stummen Erwartungen und das Gefühl der Machtlosigkeit beschreibt die norwegische Autorin mit feinen Zwischentönen und baut dabei systematisch eine unheilvolle Stimmung und Spannung auf. Der Roman bietet nicht nur ein außerordentliches Lesevergnügen, sondern ist auch sehr lehrreich. Maja Lunde konfrontiert uns mit der Frage, was für eine Umwelt wir den nachfolgenden Generationen hinterlassen wollen, und appelliert an unsere ökologische Verantwortung.

Wünsch dir eine Geschichte
Liebe Leser, wie fühlt Ihr Euch heute? Aufgewühlt? Ermattet? Tollkühn oder streitsüchtig? Wer Interesse hat, kann sich zu jeder Regung eine Kurzgeschichte wünschen, und zwar von Tim Krohn, der an einem ungewöhnlichen Projekt-in-Progress arbeitet. Der Schweizer Schriftsteller spielte schon seit längerer Zeit mit dem Gedanken, eine Enzyklopädie der menschlichen Gefühle und Charakterzüge zu schreiben. Als für seine betagte Mutter der Umbau seines Hauses im Val Müstair nötig war, kam er auf die Idee, via Crowdfunding Geschichten auf Bestellung zu schreiben. Er erstellte eine Liste von etwa 1000 Gefühlen und schreibt für jeden Unterstützer, der sich eine Gefühlslage aussucht, die passende Kurzgeschichte.
65 Geschichten nun sind in einem Auftaktband mit dem Titel „Herr Brechbühl sucht eine Katze“ erschienen. Schauplatz ist ein Zürcher Genossenschaftsbau in der Röntgenstrasse mit 11 Bewohnern, darunter ein pensionierter Straßenbahnschaffner, ein Student, eine allein erziehende Lektorin, eine Schauspielerin und ein Rettungsfahrer. Das Konzept erinnert ein wenig an die Comédie Humaine, in der Balzac alle Menschentypen abbilden wollte.
Die Geschichten haben mir unterschiedlich gut gefallen. Manche haben mich sehr gerührt wie die Geschichte „Zartheit“, in der achtzigjähriges Paar in ihrer kleinen Zweizimmerwohnung auf den Tod wartet. Andere konnte ich gut nachfühlen wie „Gerechtigkeitsliebe“, in der eine blockierte Waschmaschine für viel Unmut sorgt. Da sich die Wege der Hausbewohner in den Geschichten immer wieder kreuzen, lernt man die Figuren in neuen Situationen und Konstellationen kennen. Ich habe mich auch schon hin und wieder gefragt, welche Szenen sich in den oberen Etagen unseres Hauses abspielen. Man trifft die Nachbarn im Treppenhaus, hört Kindergeschrei, ein Scheppern oder einen Jubelschrei und setzt aus diesen Bruchstücken ein Gesamtbild zusammen, wenn auch recht vage und unvollständig. Stoff für fantasievolle Geschichten wie die von Tim Krohn liefern unsere Nachbarn allemal.

Kriegsversehrter auf Mörderjagd
Es ist ein düsteres Bild von Wien, das die österreichische Schriftstellerin Alex Beer in ihrem Debütroman „Der zweite Reiter“ zeichnet. Wir befinden uns im Jahre 1919. In der ehemals prachtvollen Reichshauptstadt herrscht bitterste Armut. Es mangelt an Lebensmitteln, Medikamenten, Kohle und Kleidung. So ist es nicht verwunderlich, dass sich viele Kriminelle mit Tricks und Betrügereien an Leid und Elend bereichern.
Dem will Protagonist August Emmerich ein Ende setzen. Der Kriegsveteran und aufstrebende Polizeiagent ist kurz davor, dem Anführer eines Schleichhändlerrings endlich das Handwerk zu legen. Er wird jedoch durch eine Serie von mysteriösen Todesfällen abgelenkt. Die Überzeugung seines Vorgesetzten, dass es sich um Selbstmord handle, kann er nicht teilen und ermittelt mit seinem Assistenten Ferdinand Winter auf eigene Faust. Dass mit dem zynischen Emmerich und dem zartbesaiteten Winter zwei Welten aufeinander prallen, mag zunächst klischeehaft wirken, tut der Geschichte jedoch keinen Abbruch. Denn in diesem wendungsreichen Krimi erlebt man immer wieder eine Überraschung. Glaubt Emmerich, kurz vor der Auflösung des Falls zu stehen, rücken neue Details ins Blickfeld, die seinen Glauben immer mehr erschüttern.
Alex Beer versteht es, die morbid-melancholische Atmosphäre und das Elend der Stadt geschickt in die Handlung einzuweben. Ganz gleich, ob man mit dem Ermittlerduo in der Trambahn durch Wien fährt, in Obdachlosenheimen und Heurigen das Personal befragt oder in der Unterwelt landet, die Beschreibungen sind so authentisch, dass man die Schauplätze deutlich vor Augen sieht. Alex Beer ist ein sehr spannender und vielschichtiger Roman gelungen, der sich mit den Auswirkungen des Krieges beschäftigt und deutlich macht, dass es in Zeiten von tiefstem Elend und Abstumpfung nicht auf Rang und Ehre, sondern auf Menschlichkeit ankommt. Man darf gespannt sein auf den nächsten Fall des sympathischen Ermittlerduos.

Reminiszenzen einer Trauernden
Bücher, in denen es um Literatur, Kunst und Kreativität geht, begeistern mich immer wieder. „Wem erzähle ich das“ von Ali Smith passt zwar in diese Kategorie, ist allerdings alles andere als leicht zu lesen. Eine Handlung gibt es nicht – vielmehr tauchen wir in einen Dialog ein, den die Ich-Erzählerin mit ihrer verstorbenen Geliebten führt. Diese ist zwar physikalisch nicht mehr präsent, hat jedoch als Kunst- und Literaturwissenschaftlerin in Form von Büchern und Vorlesungsmaterialien sichtbare Spuren in ihrer gemeinsamen Wohnung hinterlassen, die Gegenstand der Reflexionen werden. Man hat den Eindruck, die Erzählerin wolle damit ihre Geliebte wieder zum Leben erwecken – was ihr in gewisser Weise gelingt, denn so langsam nimmt die verstorbene Kunst- und Literaturwissenschaftlerin auch vor den Augen des Lesers Gestalt an.
Ich gebe zu, die Lektüre hat mich Zeit und Kraft gekostet, weil ich viele Sätze und Passagen mehrmals lesen musste, um sie zu verstehen. Manchmal hatte ich das Gefühl, die Autorin ist mir ein Stück voraus oder denkt so unkonventionell, dass ich ihren Gedankengängen nicht ganz folgen kann. Dann wieder gab es Stellen, die ich sehr gut nachvollziehen konnte, zum Beispiel die Feststellung, dass Bücher „sich erneuern, wenn wir andere werden und sie zu verschiedenen Zeiten unseres Lebens lesen“. Wie oft war ich erstaunt, dass mich ein Buch, mit dem ich bei der ersten Lektüre nichts anfangen konnte, zu einem späteren Zeitpunkt plötzlich ansprach und berührte, weil ich mich zwischenzeitlich verändert hatte. Andere Überlegungen der Autorin brachten mich zum Schmunzeln, zum Beispiel dass man ein Buch erfinden müsste, in dem steht, was gerade im dem Moment passiert, in dem man es liest.
Sie analysiert Themen wie Zeit, Form, Ränder, Kanten oder Spiegelung, nimmt die Begriffe wörtlich auseinander und umkreist unter dem Aspekt die Bedeutung von Poesie, Romanen und Filmen. Um dies zu veranschaulichen zitiert sie aus Werken von verschiedensten Autoren wie Charles Dickens, E. M. Forster, Margaret Atwood oder Paul Eluard. Manchmal dachte ich, ich hätte das Buch wegen der vielen Wortspiele in der Originalversion lesen sollen. Man könnte das erste Wort des Buchtitels „Wem“ auch ergänzen durch „Warum“, „Wann“ und „Wie“ und würde eine ungefähre Vorstellung davon bekommen, wie Ali Smith die Kunst des Erzählens wie mit einem Prisma in seine Bestandteile zerlegt. So richtig konnte mich der Inhalt jedoch nicht überzeugen.

Fragmente einer Ehe
Viel Emotion und Drama würde man in einem Buch erwarten, der den Niedergang einer dreißigjährigen Ehe beschreibt. Nicht so bei Tim Parks und seinem Roman „Thomas & Mary“. Manchmal hatte ich das Gefühl, er dokumentiert das merkwürdige Verhalten von zwei Laborratten, die sich immer mehr voneinander isolieren. Mit dem kleinen Unterschied, dass Laborratten keinen Ehering tragen. Damit fängt die Geschichte nämlich an, oder besser gesagt mit dem Verlust desselben an einem Strand in Blackpool. Thomas ist ganz sicher, dass er seiner Frau den Ring zur Verwahrung gegeben hat, bevor er ins Wasser ging, sie jedoch bestreitet dies. Schon in diesem kleinen Disput werden die Protagonisten treffend charakterisiert: Thomas, der dazu neigt, jedes Vorkommnis im Bezug auf ihre Ehe zu deuten und eine Symbolik zu erkennen, während Mary die Sache als Bagatelle abtut.
Ähnlich verhält sich das Paar, als eine Pflanze, die sie einst zur Hochzeit bekamen, eingeht. Mary würde pragmatisch die Pflanze entsorgen, doch Thomas hängt an ihr und macht sich Gedanken, wann genau die Pflanze abstarb. Hofft er, auf die Weise bestimmen zu können, wann die Ehe zu kriseln begann? War Thomas’ erster Seitensprung die Ursache oder nur der Auslöser? Fakt ist, dass sich das Paar immer weiter auseinander lebt, bis es schließlich zur räumlichen Trennung kommt. Das alles wird nicht chronologisch, sondern in Zeitsprüngen und aus verschiedenen Perspektiven geschildert. So schlüpft der Erzähler in die Rolle der Ehefrau, Tochter, Geliebten oder seines Tennispartners, so als wolle er die missglückte Ehe von allen Seiten analysieren. Manche Episoden lesen sich wie Kurzgeschichten, mal witzig-ironisch, mal deprimierend.
Tim Parks hat ein besonderes Talent, Momentaufnahmen im Alltag für sich sprechen zu lassen – zum Beispiel als Thomas Mary etwas Wichtiges von der Arbeit erzählen will und sie mitten im Gespräch den ohrenbetäubenden Entsafter einschaltet. Auch wenn der Erzählstil eher nüchtern wirkt, spürt der Leser doch Thomas’ Schmerz, seine Verzweiflung und Schuldgefühle. Marys Sicht kommt in dieser Geschichte leider zu kurz und würde sicher ein weiteres Buch füllen.

Boston Marriage und Sisterhood
Obwohl sie zu den wichtigsten Dingen im Leben gehören, macht man sich im Alltag selten Gedanken über die unterschiedliche Bedeutung und Arten von Freundschaften. Für einen besonderen Aspekt, nämlich die kulturgeschichtliche Entwicklung von Frauenfreundschaften interessierten sich die amerikanischen Autorinnen Marilyn Yalow und Theresa Donovan Brown. Das Ergebnis ihrer Recherchen kann man in dem sehr interessanten Buch „Freundinnen – Eine Kulturgeschichte“ nachlesen.
Die Autorinnen gehen zurück bis in die Antike, wo Freundschaften in der Öffentlichkeit männlich geprägt waren. Frauenfreundschaften rückten erst etwa im 12. Jahrhundert in die Aufmerksamkeit wie beispielsweise die tragische Liebe und Freundschaft zwischen Hildegard von Bingen und der Nonne Richardis von Stade, die wesentlich jünger und von niedrigerem Rang war. Mit Shakespeare fanden Frauenfreundschaften auch Eingang in die Dichtkunst. Kapitel für Kapitel begleiten wir die Autorinnen in neue Epochen und gesellschaftliche Kreise in Europa und Amerika und erfahren, was sich hinter Begriffen wie Boston Marriage und Sisterhood verbirgt. Die literarischen Zirkel in London und die Salons in Paris boten den idealen Rahmen, in dem sich Freundschaften entwickeln konnten. Zitate aus Briefen von George Sand oder Charlotte Bronté vermitteln dem Leser die Intensität der Gefühle und Beziehungen zwischen den Schriftstellerinnen. Neben romantischen Freundschaften etablierten sich auch starke Bindungen zwischen Frauen, die ein gemeinsames Anliegen teilten wie zum Beispiel das Engagement für die Unabhängigkeit Amerikas. Frauengruppen wurden immer mehr zu Eckpfeilern der amerikanischen Gesellschaft und trieben durch ihre Kameradschaft und gemeinsamen Ziele soziale Projekte wie die Schaffung von Zufluchtsorten für Unterprivilegierte voran.
Am Anfang fand ich das Buch etwas trocken, doch mit der Zeit fesselte mich die Tiefe und Vielschichtigkeit der beschriebenen Frauenfreundschaften, ihr Bezug zum Zeitgeschehen und ihre Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklungen immer mehr. Anhand von vielen Beispielen zeigen die Autorinnen, wie Sitcoms, Spielfilme und Romane die Rolle der Freundin und die Mentalitäten der jeweiligen Zeit deutlich widerspiegeln. Auch die sozialen Medien, die es vielbeschäftigten Frauen ermöglicht, Freundschaften zu pflegen und Gleichgesinnte zu finden, werden differenziert betrachtet. Eine Vernetzung führe nicht unbedingt zur Verbundenheit, weshalb neuerdings der Trend, online zu gehen, um sich offline zu treffen, zu beobachten sei. In dem weit gespannten Bogen erfährt man nicht nur viele interessante geschichtliche Details, sondern sieht den Stellenwert der Freundschaft in einem neuen Licht.

Das Märchen Worpswede
Klaus Modick entwirft eine interessante Dramaturgie, um die Beziehung zwischen dem Künstler Heinrich Vogeler und dem Dichter Rainer Maria Rilke zu schildern. Ausgangspunkt für seinen fiktiven Roman „Konzert ohne Dichter“, der auf Rilkes Tagebücher und Vogelers Lebenserinnerungen beruht, ist das Gemälde ‚Das Konzert oder Sommerabend auf dem Barkenhoff‘, wofür Heinrich Vogeler fünf Jahre brauchte und 1905 die ‚Große Goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft‘ erhielt. Das begeisterte Publikum sah darin die Idylle der Künstlerkolonie Worpswede. Hätten sie genau hingesehen, wäre ihnen aufgefallen, dass zwischen den Malerinnen Paula Modersohn-Becker und Clara Rilke-Westhoff eine Lücke klafft. An dieser Stelle war ursprünglich Rilke vorgesehen, wurde jedoch von Vogeler in der finalen Version entfernt – eine Tat, die sehr viel über die Verfremdung zwischen den Seelenverwandten aussagt.
In Rückblicken erfährt der Leser, wie Vogeler und Rilke sich in einer Trattoria in Florenz kennenlernten. Ihre Kunst ähnelte sich insofern, dass sowohl Rilkes Sprache als auch Vogelers Malerei etwas „üppig Ornamentales, wuchernd Florales“ hatten. Im Gegensatz zu Rilke schaffte Vogeler jedoch sehr schnell den Durchbruch zu einem der erfolgreichsten Künstler. Er lockte viele Maler nach Worpswede, wo er ein Haus kaufte, es ‚Barkenhoff‘ taufte und einen regelrechten Schaffensrausch erlebte. Ich war überrascht, was für ein Tausendsassa er war. Für ein neues Domizil des Multimillionärs Heymel in der Leopoldstraße entwarf er Tafelsilber, Tischleuchter, Spiegel, Porzellan, Möbel, Gläser, Schmuck, sogar Türklinken und Garderobenhaken. Er avancierte zu einem gefragten Illustrator und Buchgestalter und entwarf sogar Sammelbilder für Stollwerck-Schokolade. Glücklich war Vogeler jedoch nicht. Auf der Höhe seines frühen Erfolgs erschien ihm seine Kunst flach und schal – Ausdruck einer Romantik, die vor der Gegenwart und den Konflikten floh und Schönheit und Idylle vorgaukelte, was dem Publikum anscheinend gefiel.
Dabei gab es sie tatsächlich für kurze Zeit: die Idylle in Worpswede. Vogeler erinnert sich an die unvergessliche Stimmung eines Sommers, in der Harmonie, Liebe, Freundschaft, und Lebenslust das Schaffen der Künstlerkolonie prägten – bis 1900 Rilke kam. Seine Taktik, Menschen emotional an sich zu binden und dann von anderen zu isolieren, sowie seine Einstellung, dass alles in einem höheren Auftrag geschehen müsse, zerstörte jegliche Lebensfreude. Nahestehende wie seine eigene Familie waren für ihn wie Gäste, die nicht gehen wollten. Mit solchen Sprüchen verdarb er es sich endgültig mit Vogeler. Die Sprache von Klaus Modick ist so satt und üppig wie die Kunst Vogelers, sein Ton oft spöttisch und sarkastisch. Sein Roman gibt einen sehr interessanten und unterhaltsamen Einblick, wie eine Künstlerfreundschaft in die Brüche ging sowie das teils freizügige, teils dekadente Leben der Bohémiens und Adligen zu der Zeit.