Archiv 2017-02

From Think to Ink
Auch wenn ich schon genügend Bücher über Creative Writing gelesen habe und mich besser ans Schreiben machen sollte, konnte ich es wieder nicht lassen und griff zum Buch „Creative Writing – From Think to Ink“. Darin geht es weniger um da nötige Handwerkszeug, um gute Texte zu schreiben oder Romane zu konzipieren, sondern vielmehr um den kreativen Schreibprozess.
Gail Carson Levine gibt viele schlüssige Tipps, wie man seinen eigenen Stil findet, Ängste vor Kritik überwindet oder die nötige Schreibroutine in seinen Alltag integriert. Interessant fand ich ihre Ansicht, dass man keine 1000 Writing Prompts brauche, um eine gute Story zu schreiben. Vielmehr solle man sich Fragen stellen wie „Warum will ich schreiben?“ oder „Was ist der größte Wunsch in meinem Leben?“ und schon könne man seine Kreativität anzapfen und eigene Ideen sprudeln lassen. Wer viel liest, hat meistens bestimmte Lieblingsschriftsteller. Laut Levine könne man am besten von ihnen lernen, wenn man sich fragt, was einem genau an ihren Romanen oder ihrem Schreibstil gefällt.
Auch zum Thema ‚Editieren‘ und ‚Feedback einholen’ konnte ich ein paar gute Anregungen mitnehmen. Die New Yorker Schriftstellerin empfiehlt, beim Überarbeiten des Textes nicht nur auf stilistische und inhaltliche Aspekte, sondern auch auf seine Gefühle während der Lektüre zu achten. Mit verschiedenfarbigen Markierungen werden schwächere und stärkere Stellen schnell sichtbar. Sobald man beim Lesen das Interesse verliert, könne man zum Beispiel zu pink, bei konfusen Passagen zu grün und bei steigender Spannung zu gelb greifen.
Levine erinnert daran, dass Schriftsteller nicht nur während des Schreibens, sondern rund um die Uhr ‚arbeiten‘. Es gibt zahlreiche Gelegenheiten im Alltag, die man ‚schriftstellerisch’ nutzen kann, indem man die Mimik und Gestik von Menschen beobachtet und in Worte fasst, Metaphern für eine ungewöhnliche Landschaft sucht oder sich Wortspiele ausdenkt. Jede Wartezeit ist somit sinnvoll genutzt.

Meister der Genremalerei
Seit gestern zeigt das Louvre eine Ausstellung rund um den holländischen Maler Jan Vermeer. Im Fokus stehen Vermeers Beziehungen zu anderen bedeutenden Malern des Goldenen holländischen Zeitalters wie Gerard Dou oder Jan Steen, die ihn in seiner Arbeit beflügelten. Bezeichnend für die Künstler war die Darstellung schöner Alltagsszenen, die sich in Stil, Komposition und Technik sehr ähneln und den künstlerischen Wetteifer verdeutlichen. Die Meisterwerke der Genremaler sind noch bis 22. Mai zu sehen.
Wer in nächster Zeit in Paris unterwegs ist, könnte sich auch noch für folgende Ausstellungen interessieren:
– Bernard Buffet im Musée d’art moderne de la Ville de Paris, bis 5. März
– Joann Star – Salvador Dalí bis 31. März
– Rodin. Die Ausstellung zum 100. Todestag, vom 22. März bis 31. Juli

Präsident wider Willen
Wieder etwas dazugelernt: In der amerikanischen Politik gibt es einen sogenannten „Designated Survivor“, der zu besonderen Anlässen – wie der Rede des Präsidenten zur Lage der Nation – an einem geheimen Ort untergebracht wird, um im Katastrophenfall die Geschäfte fortführen zu können. Diese Rolle wird Kiefer Sutherland alias Tom Kirkman in der Serie „Designated Survivor“ zuteil, die vom amerikanischen Sender ABC produziert wurde.
In der ersten Szene sitzt der Minister für Wohnungsbau und Stadtplanung noch mit seiner Frau in einem isolierten Zimmer vor dem Fernseher, isst Popcorn und folgt gelangweilt der Ansprache des US-Präsidenten vor dem Kongress. In der nächsten Minute erschüttert eine gewaltige Explosion das Kapitol und vernichtet die Regierung und den Kongress. Tom Kirkman steigt ungewollt zum neuen US-Präsidenten auf.
Kirkman ist ein sanfter, liebevoller Familienvater, häufig von Selbstzweifeln geplagt, und stand kurz vor der Entlassung durch den Präsidenten – keine idealen Voraussetzungen, um in seinem neuen Amt von der Bevölkerung akzeptiert zu werden. Tag für Tag muss er Sabotagen und Angriffe von allen Seiten abwehren, Entscheidungen von größter Tragweite treffen und sich neuen politischen Konflikten stellen. Über alldem schwebt die große Frage, wer den Terroranschlag zu verantworten hat. Eine FBI-Agentin stößt auf eine Spur, die auf eine Verschwörung unter den eigenen Reihen deutet, doch mehr erfahren wir in der ersten Staffel nicht, die mit einem krassen Cliffhanger endet. Die Fortsetzung wird wohl noch etwas auf sich warten lassen.

Eisiges Naturschauspiel
„Ich habe gelernt, jederzeit eine Einladung annehmen zu können, wenn das für mich heißt, dass ich reisen kann.“ Diese Abenteuerbereitschaft ihrer Freundin gefiel der amerikanischen Schriftstellerin Kathleen Winter, so dass sie ebenfalls für alle Fälle einen kleinen Koffer packte und in ihren Wandschrank verstaute. Damals ahnte sie noch nicht, dass dieser Fall schon in Kürze eintreten sollte: Sie wird eingeladen, auf einem russischen Eisbrecher eine Reise durch die Nordwestpassage zu unternehmen, die sie in ihrem Buch „Eisgesang“ schildert.
Schon der Einstieg der Geschichte ist sehr gelungen: Kathleen, Ende 40, trifft ihre Jugendfreundinnen wieder. Sie liegen auf einem Steg und erinnern sich an die Zeit zurück, als die Zukunft verheißungsvoll und die Welt für sie noch voller Möglichkeiten war. Nun, 30 Jahre später, hat Kathleen eine unglückliche Ehe und ein Familienleben hinter sich, das sie als eher „uninspiriert“ erlebte. Unverändert geblieben ist ihre Sehnsucht nach dem Unvorhergesehenen. Daher zögert sie nicht lange und nimmt das Angebot ihres Berufskollegen, an seiner Stelle zu reisen, an.
Das Schiff folgt der Route Roald Amundsens bei seiner ersten Überquerung der Nordwestpassage von Kanada nach Grönland mit dem Endziel Kugluktuk. Unter der Crew befinden sich Forscher, Geologen, Touristen und jene, die persönliche Tragödien verarbeiten wollen. Kathleen sucht zunächst eher Abstand von der Gruppe. Statt sich in Lehrvorträgen Fakten und Zahlen über die Fjorde anzuhören, möchte sie die Landschaft und die Begegnung mit den Ureinwohnern live erleben und auf sich wirken lassen.
Das Naturerlebnis, das ich mir überwältigend vorstelle, beschreibt Kathleen fesselnd und bildgewaltig. Sie macht das Land im wahrsten Sinne des Wortes lebendig, indem sie es mit einem Reisegefährten vergleicht, der über einen Körper und eine Sprache verfügt. In der sich ständig verändernden Eislandschaft erkennt sie ihre eigene Veränderung während der Reise wieder. Je tiefer sie in die „Existenz einer arktischen Majestät“ eindringt, desto mehr wird ihre bisherige Wahrnehmung und ihr Denken außer Kraft gesetzt. Dazu gehört auch, dass sich ihre ursprüngliche Vorfreude und Neugier zunehmend in das unbehagliche Gefühl verwandeln, unbefugt in ein fremdes Territorium einzudringen. Auch der krasse Gegensatz zwischen dem Komfort auf dem Schiff und der Unerbittlichkeit des Meeres macht ihr bewusst, dass die Geborgenheit reine Illusion ist. Ich kann jedem nur empfehlen, Kathleen Winter auf dieser einzigartigen Reise sowohl in die Arktis als auch in ihre Seelenlandschaft zu begleiten.

In den Wäldern von Pennsylvania
Das Schöne an Romanen ist, dass man in Welten eintauchen kann, die einem völlig fremd sind – so auch in dem Krimi „Auf der Jagd“ von Tim Bouman. Dreh- und Angelpunkt des Geschehens ist die Gemeinde Thyme, wo man sich vor Holzdieben, Wilderern und Einbrechern hüten muss. Ansonsten passiert nicht viel in den einsamen Wäldern im Nordwesten von Pennsylvania. Das dachte zumindest Henry Farrell, als er seine Stelle als Dorfpolizist dort antrat und sich auf ein ereignisloses Leben einstellte. Nach seinem Kampfeinsatz in Somalia und dem Verlust seiner erkrankten Frau war es genau das, was er wollte: räumliche Weite, ein wenig jagen und fischen und minimaler Kontakt mit Menschen.
Als eines Tages eine Leiche auf dem Grundstück von Aubrey Dunigan entdeckt wird, zeigt der Ort jedoch nach und nach sein wahres Gesicht. Henry ist gezwungen, sich mit den einzelnen Bewohnern und ihrer Vorgeschichte zu beschäftigen. Auch den zunehmenden Bedrohungen, einerseits durch mexikanische Drogendealer und andererseits durch ein Frackingunternehmen, das das Land ausbeutet, muss sich der Gesetzeshüter im Zuge seiner Ermittlungen stellen. Wer jetzt eine effiziente und rasante Ermittlung erwartet, wird allerdings enttäuscht, denn die Uhren ticken anders in Wild Thyme. Die Menschen dort passen sich dem Rhythmus der Tiere und der Natur an und entsprechend gemächlich erfolgt auch die Aufklärung des Falls. So darf man sich nicht wundern, wenn Henry in Ruhe die Umgebung des Tatorts auskundschaftet, sich zwischendurch auf einem Baumstumpf niederlässt und die Sterne beobachtet. Nicht gerade der typische Ermittler, den man aus gängigen Krimis gewohnt ist.
Das ist aber auch das Besondere an dieser Geschichte, denn der Mordfall ist eher sekundär. Vielmehr geht es um die eigenwilligen Figuren, ihr besonderes Verhältnis zu dem Lebensraum, das immer mehr gefährdet ist und verkommt. Bouman deckt Schicht für Schicht die Vergangenheit des Ortes auf und vermittelt subtil, wie sich der Hass der Gemeinschaft auf jegliche Autorität aufgebaut hat. Als Henry mit seiner Frau Polly am Stadtrand von Pinedale wohnte, den Blick auf die Zeilen der Wind-River-Bergkette genoss und Wanderungen unternahm, war die Welt für ihn noch in Ordnung. Durch die Erkrankung und den Tod seiner Frau ist der Ort für Henry nicht mehr das, was sie war. Auf ähnliche Weise hat auch Aubrey Dunigan durch den Fund der Leiche auf seinem Grundstück „einen Ort verloren, den er liebt“. Diese Wechselwirkung zwischen Mensch und Land zieht sich wie ein roter Faden durch diesen sehr lesenswerten Roman mit einem überraschenden Ende.

Tödliches Smart Home
Bald werden wir die gesamte Haustechnik mit dem Handy steuern können: Heizung, Jalousien, Beleuchtung, Kühlschränke, Kaffeemaschinen... Warum mir die Vorstellung von einem intelligenten Haus ganz und gar nicht behagt, zeigt der amerikanische Film „Hacked – Kein leben ist sicher“.
Mike Regan, gespielt von Pierce Brosnan, führt ein glückliches Leben mit seiner Frau und seiner Tochter in einer hochtechnisierten Luxus-Villa. Sein Unternehmen steht kurz davor, die Flugzeug-Industrie zu revolutionieren. Das verdankt er IT-Cracks wie Ed Porter, der nicht nur in Mikes Firma, sondern auch in dessen Haus knifflige Probleme löst. Als Ed sich wiederholt der Familie nähert und schroff abgewiesen wird, mutiert er zum psychopathischen Stalker. Immer mehr Details aus dem Privatleben der Familie gelangen an die Öffentlichkeit. Anfangs konnte ich dem klischeereichen Film nicht viel abgewinnen. Spannend wurde es erst, als Mike den Spieß umdrehte und zum Gegenangriff überging. Mit Hilfe eines weiteren Hackers versucht er, Ed Porter das Handwerk zu legen.
Der gläserne Mensch und die Totalüberwachung – das alles hat man schon mehrfach gesehen und gelesen. In der Hinsicht bietet dieser Thriller zwar wenig Neues, doch das Katz- und Maus-Spiel hält einen doch bis zuletzt in Atem. Auch auf ästhetische und kontrastreiche Bilder wird Wert gelegt. Es ist schon absurd, wie sich Mikes durchgestylte makellose Villa in eine wahre Hölle verwandelt. Zum Schluss reißt er aus lauter Verzweiflung sämtliche Kabel aus den Wänden heraus, um der permanenten Überwachung ein Ende zu setzen. Beängstigend ist die Realitätsnähe solcher Filme. Will man mit der modernen Technik mithalten, muss man fast gutgläubig darauf vertrauen, dass sie uns einerseits nicht im Stich lässt und dass andererseits unsere persönlichen Daten nicht missbraucht werden.

Momente der Entrücktheit
Von Hanns-Josef Ortheil habe ich bisher nur wenig gelesen. Daher wundere ich mich selbst, was mich an seinem aktuellen Buch „Was ich liebe und was nicht“ so gereizt hat. Können seine Vorlieben und Abneigungen so interessant sein, dass sie mir ein schönes Leseerlebnis bescheren? Die Antwort lautet ja! Schon die Einführung ist sehr interessant: Man erfährt, dass sich bereits in der Antike Philosophen und Schriftsteller gerne über beliebte Themen in brieflichem oder mündlichem Dialog austauschten. Ortheil folgt dieser Tradition und teilt uns seine persönliche Einstellung zu verschiedenen Lebensbereichen mit, von Reisen über Essen bis hin zu Medien und Sport. Er möchte den Lesern eine Art Spiegel vorhalten, in dem sich der eine oder andere erkennt. Und genau das passierte mir gleich mehrmals.
Ortheil lädt uns in für ihn typische Alltagssituationen ein, zum Beispiel auf eine lange Zugfahrt, bei der er interessante Mitreisende kennenlernt, gemeinsame Interessen entdeckt und stundenlang anregende Gespräche führt. Oder ein Treffen mit einem guten Freund in einem Weinlokal, in dem sich beide derart ins Gespräch vertiefen, dass sie glatt vergessen, ihr Essen zu bestellen. Der Schriftsteller ist aber auch gern für sich allein. Immer wieder sucht er sich kleine Oasen wie ein Berliner Taxi oder ein Hotel, das er als „paradiesischen Lebensraum“ für sich entdeckt und in Salons, Bädern und Bars Momente der Versenkung genießt. Häufig verspürt er den Wunsch, vom Alltag abzudriften und Momente der Entrücktheit zu genießen.
Er gibt Einblick in viele persönliche Details wie seine Heimat in Westerwald, seinen einstigen Lebenstraum, Pianist zu werden oder seine jetzige Lehrtätigkeit. Der Autor wurde mir nicht nur immer sympathischer, ich fühlte auch eine starke Verbundenheit mit ihm, weil ich so viele Empfindungen, die er sprachlich meisterhaft beschreibt, teilen konnte. Dass er zum Beispiel lieber allein als in Begleitung Museen besucht oder dass er in Filmen den Figuren so nahe kommt und den Illusionen erliegt, dass er sich glatt in sie verliebt. Auch wenn er ganz triviale Tätigkeiten beschreibt wie Fernsehen, Autofahren oder Schwimmen kommt man seiner Person und seinem Lebenskonzept so nahe, als würde man sie schon lange kennen.
Ich würde mir wünschen, Ortheil ganz zufällig während einer seiner Lesereisen im Zug zu begegnen und mich über japanische Haikus und Gott und die Welt zu unterhalten. Bis dahin nehme ich vorlieb mit diesem wunderbaren Buch voller inspirierender und humoristischer Gedankengänge und folge vielleicht Ortheils Aufforderung, selbst ein Buch zu schreiben über "was ich liebe und was nicht".

Kampf gegen Giganten
Es gibt viele reizvolle Berufe, doch Anwalt zählte für mich noch nie dazu. Warum sehe ich mir dann bloß so viele Anwaltsserien an? Und anscheinend bin ich nicht die einzige, denn Produktionen wie „Good Wife“ und „Suits“ erfreuen sich großer Beliebtheit. Und nun kommt gleich noch eine dazu: „Goliath“, eine Amazon Original Serie von David E. Kelley, der mit Serien wie „Ally McBeal“ und „Boston Legal“ bekannt wurde.
„Goliath“ weicht ein wenig vom üblichen Schema ab, denn in der gesamten ersten Staffel geht es nur um einen einzigen Fall. Und der hat es in sich: Es kommt der Verdacht auf, dass der Technologiekonzern Borns Tech die Schuld am Tod eines Mitarbeiters trägt, der vor zwei Jahren bei einer Explosion im Pazifik ums Leben kam. Für den abgewrackten Anwalt Billy McBride, gespielt von Billy Bob Thornton, ist es die Chance seines Lebens: Zum einen könnte er ein Verbrechen von gigantischem Ausmaß aufdecken – zum anderen gegen die Großkanzlei Cooperman und Partner, die er einst mitgründete und nach einer erfolgreichen Karriere ausgemustert wurde, antreten. Zusammen mit einem kleinen Team aus lauter unprofessionellen Anwältinnen nimmt Billy den Kampf gegen die Giganten auf. Während Schauspieler Billy Bob Thornton in einer Mischung aus Lässigkeit, liebenswürdigem Charme und bissiger Ironie wieder einmal eine schauspielerische Glanzleistung abliefert, überzeugen die übrigen Figuren weniger – nicht einmal William Hurt, der als Bösewicht schon ziemlich krank rüberkommt, aber insgesamt farb- und harmlos bleibt.
Der besondere Reiz an der Geschichte liegt zweifellos daran, dass man als Zuschauer nicht nur gerne sehen möchte, dass die Gerechtigkeit siegt, sondern auch, dass sich mittellose vermeintlich Schwächere gegenüber mächtigen Konzernen behaupten können. Mut, Hartnäckigkeit und clevere Taktiken gegen Arroganz, Selbstüberschätzung und finanzielle Macht – wenn das mal kein spannendes Duell ist. Die letzte Folge ist der Hammer und lässt darauf hoffen, dass es eine Fortsetzung gibt.

Gemeinsam einsam
Schon das Cover macht neugierig auf die neue Kurzgeschichtensammlung von Terézia Mora. Winzige Menschen bewegen sich voneinander weg und mitten drin prangt der Titel „Die Liebe unter Aliens“. Handelt es sich etwa um einen Science-Fiction? Keineswegs, denn mit Aliens sind Menschen gemeint, die sich jedoch so fremd bleiben, als wären sie Bewohner verschiedener Planeten. In der gleichnamigen Kurzgeschichte zum Beispiel geht es um den jungen Koch Tim und seine Freundin Sandy, die eines Tages einen Ausflug ans Meer unternehmen. Tims Chefin Ewa hegt mütterliche Gefühle für Tim. Doch das Verhalten des zu spontanen Aktionen neigenden Paares ist für sie unverständlich. Ewas geregeltes Leben mit ihrem Ehemann, der auf Alltagsroutine wert legt, macht ihr den krassen Gegensatz der Lebensweisen nur noch deutlicher.
Oft fällt der Satz „Was es für Leute gibt!“, zum Beispiel in einer Geschichte, die auf einem Friedhof spielt. Ein Mann erfährt, dass sein Schulfreund verstorben ist und trifft sich mit dessen Schwester an seinem Grab. Sie bleibt seltsam verschlossen und es kommt kein Gespräch zustande. Obwohl sie sich kennen, stehen sie sich wie Fremde gegenüber. Auch ein Hotelmitarbeiter und seine Halbschwester hatten einmal eine enge Beziehung, merken jedoch, dass sie sich auseinander gelebt haben.
Die Figuren suchen entweder Anschluss und Nähe oder haben sich mit ihrem isolierten Dasein abgefunden. Halt oder gar Glücksmomente finden sie oftmals in der Natur – zum Beispiel am Meer, dass immer „großartig“ ist, ganz gleich, was in der Welt oder im Inneren der Menschen vor sich geht, vor einer Lärche, die ihre goldenen Nadeln fallen lässt oder auf einer Autofahrt durch den Wald bei Sonnenauf- und untergang. Auffällig ist auch, dass die Figuren gern und ständig in Bewegung sind. Sie rennen wie die Verrückten während einer Verfolgungsjagd quer durch die Stadt, radeln vergnügt durch die Gegend oder legen an einem Kanal mehrere Kilometer zu Fuß zurück. Manchmal werden sie auch aus ihrem gewohnten Umfeld gestoßen und sind gezwungen, sich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden, zum Beispiel ein Marathonläufer, der einen Dieb bis in ein angrenzendes Stadtviertel verfolgt oder ein japanischer Rentner, der sich seine neu gewonnene Zeit mit Spaziergängen durch sein Wohnviertel vertreibt und dabei ungewöhnliche Entdeckungen macht. Wenn auch rar, so gibt es sie doch – die kurzen Momente der Glückseligkeit und menschlichen Nähe, zum Beispiel als eine einsame Studentin, die aus Budapest nach London gezogen ist, unerwartet von deutschen Touristen zu einer Runde Fish & Chips eingeladen wird.
Mora erzählt sehr unkonventionell. Die ungewöhnlichen Satzkonstruktionen vermitteln stellenweise den Eindruck, sie schreibe ihre Gedanken so nieder wie sie kommen. Manchmal wechselt die Erzählperspektive abrupt von der dritten in die erste Person. Obwohl die Autorin eher nüchtern, kühl und zynisch schreibt – da fallen auch mal so grausame Sätze wie „Die Menschen sind überflüssig“ oder „Menschen sind dumm und böse“ – nimmt man als Leser doch großen Anteil am Schicksal und Gefühlsleben der Figuren. Man taucht mit ihnen in eine sehnsuchtsvolle Entrücktheit ein. Nach der Lektüre war ich ganz hin und weg, wie erfinderisch Terézia Mora die großen Fragen menschlichen Daseins in kleine literarische Kostbarkeiten verpackt hat.

Die Queen von Bowery
Eine ganz besondere Mischung aus Biografie und Großstadtroman ist das Buch „Saint Mazie“ von Jami Attenberg. Nach ihrem erfolgreichen Roman „The Middlesteins“ erzählt die amerikanische Schriftstellerin diesmal vom Leben einer New Yorker Frau, die als „Queen of the Bowery“ zu einer Legende wurde: Marie Gordon-Phillips.
In Form von fiktiven Tagebucheinträgen erfahren wir, wie Mazie im Alter von zehn Jahren mit ihrer Schwester Jeanie von Boston nach New York zog, um bei ihrer älteren Schwester Rosie zu leben. Später arbeitet sie als Kartenverkäuferin im Kino ihres Schwagers und verbringt Tag für Tag in ihrer kleinen Zelle, die zu ihrem zweiten Zuhause wird.
Mazie liebt das Nachtleben und ist oft in den New Yorker Straßen unterwegs, um Bars abzuklappern und mit charmanten Männern zu tanzen und zu flirten. Ihre Vorlieben, Schwächen und Stärken erfahren wir nicht nur aus ihrem Tagebuch, sondern auch aus der Perspektive verschiedener Zeitzeugen. So lässt Jamie Attenberg Nachbarn, Freunde und Bekannte zu Wort kommen, deren Kommentare ein sehr lebendiges Bild dieser ungewöhnlichen Frau vermitteln. Ungewöhnlich deshalb, weil sich das vergnügungssüchtige Mädchen immer mehr zu einer selbstlosen Frau entwickelt und später sogar als „Heilige“ angesehen wird. Nicht nur Mazie, auch ihr Umfeld hat sich stark verändert. Die Große Wirtschaftskrise nach dem Schwarzen Freitag hat viele Bürger arbeits- und obdachlos gemacht und das Elend und die Zahl der Hilfsbedürftigen nimmt zu. Noch immer zieht Mazie nächtens durch die Stadt, doch nicht mehr, um sich zu amüsieren, sondern um den Obdachlosen, Trinkern und Stadtstreichern rund um die Bowery zu helfen. Sie gibt ihnen Geld und Seife und lässt sie im Kino schlafen.
Ihre Persönlichkeit hat mich sehr fasziniert. Obwohl sie zahlreiche Schicksalsschläge und Verluste von Familienangehörigen und Freunden erleidet, gibt sie die Hoffnung nie auf. „Walking wounded, and we never even went to war“, schreibt sie am 1.9.1921, ein Satz, der nicht nur ihre Gefühle, sondern die Stimmung in ganz New York auf den Punkt bringt. Obwohl Mazie allen Grund hat, verzweifelt, ratlos und verwirrt zu sein, weiß sie in jeder Lebenslage genau, was zu tun ist und trifft eine klare Entscheidung. Und ganz gleich, was in New York passiert: Sie ist stets in der Lage, auch im Dreck die Schönheit der Stadt zu sehen.