Archiv 2017-01

Signale des Körpers
Diesen Winter scheinen die Krankheiten besonders aggressiv die Runde zu machen. Nacheinander erwischt es Freunde und Bekannte, die über Fieber, Magen-Darm-Grippe und chronischen Husten klagen. Kollegen horten auf ihren Schreibtischen ganze Batterien von Tabletten, Nasensprays und Hustensäften. Wer die lästigen Beschwerden als wichtige Signale des Körpers ernst nimmt und sie dazu nutzen möchte, sich und seinen Körper besser zu verstehen, dem kann ich das Nachschlagewerk „Der Schlüssel zur Selbstbefreiung – Enzyklopädie der Psychosomatik“ von Christiane Beerlandt wärmstens empfehlen. Die flämische Autorin und Lebensphilosophin, die lange Zeit in Ostende lebte, beschreibt darin den psychischen, emotionalen Ursprung von etwa 1300 Erkrankungen und wie man damit umgehen kann, um dauerhaft zu genesen.
Durch eine Freundin kam ich mit diesem Buch in Berührung und war fasziniert, je länger ich darin blätterte. Dass Psyche und Emotionen bei der Entstehung und Heilung von Krankheiten eine wichtige Rolle spielen, ist ja allgemein bekannt. Was sich dabei ganz genau in unserem Inneren abspielt, wie sich innere Kämpfe und Blockaden körperlich äußern und was wir dagegen tun können, beschreibt Christiane Beerlandt auf verständliche, einfühlsame und und aufmunternde Weise. Im Vorwort schreibt sie, dass die Informationen nicht auf wissenschaftlichen Beobachtungen beruhen, sondern dass sie sie „aus sich selbst geschöpft“ und 1992 niedergeschrieben hat. Umso erstaunlicher war für mich, wie genau die Erklärung meiner sporadisch wiederkehrenden Leiden wie Kopfschmerzen oder Hautentzündungen auf mich zutrafen.
Das Buch, das in verschiedene Sprachen übersetzt wurde, macht deutlich, dass hinter den meisten Erkrankungen Selbstzweifel, Angst und Unsicherheit oder angestaute und unterdrückte negative Emotionen wie Trauer, Schmerz und Wut stecken. Es wundert mich nicht, dass das Werk auch von Ärzten und Therapeuten als wichtige Ergänzung zur medizinischen Behandlung genutzt wird. Ich hoffe, dass Ihr dieses Jahr gesund und fit bleibt und auch die kalten Wintermonate durch innere Ausgeglichenheit und wohltuende Spaziergänge übersteht.

Randale im Aufsteigerviertel
Als ich letztes Jahr in Brooklyn oder in Berliner Stadtteilen wie Neukölln unterwegs war, war mir gar nicht bewusst, dass es sich um typische Beispiele von Gentrifizierung handelt. Erst der Krimi „Tod Steine Scherben“ von Veit Bronnenmeyer machte mir deutlich, welche sozialen Auswirkungen die Aufwertung eines Stadtviertels haben kann. Als Außenstehender genießt man nur die hippe und kultige Atmosphäre eines boomenden Szeneviertels.
Der fünfte Fall der Nürnberger Ermittler Albach und Müller spielt im Stadtteil Konradshof, jahrzehntelang Heimat von Arbeitern, Arbeitslosen, Künstlern und Ausländern. Seit einiger Zeit hat allerdings eine neue betuchtere Schicht Gefallen an dieser Wohngegend gefunden. Große Geldsummen werden investiert, um den alten Baubestand zu sanieren. Dies ruft viele Gegner auf den Plan wie die linken Aktivisten der Gruppe AFKO. Als einer von ihnen in einem Auto verbrennt, ist wieder einmal das Ermittlerduo gefragt.
Albach, der vorübergehend die Kommissariatsleitung übernehmen darf, will sich mit eigenen Augen ein Bild von dem Stadtviertel machen. Gemeinsam mit seiner Kollegin Sophie geht er auf Streife, um mit den Bewohnern von Konradshof ins Gespräch zu kommen. Sie erhoffen sich Hinweise von Linksalternativen, Obdachlosen, Eigenheimbesitzern und Bauarbeitern. Dadurch wird der Krimi auch zu einer interessanten, kritischen Milieustudie, die die Auswirkungen des sozialen Wandels aus verschiedenen Perspektiven unter die Lupe nimmt. Während auf Bürgerversammlungen heftig diskutiert und protestiert wird, finden im Rohbau sogenannte Fette-Miete-Parties statt.
In dieser temporeichen Geschichte gibt Bronnenmeyer auch den einzelnen Figuren genügend Raum und Tiefe. So hat man Mitleid mit Renan, die genervt ist, weil sie ständig auf ihre unübersehbare Schwangerschaft angesprochen wird, obwohl sie so ungern über Privates spricht. Noch weniger gefällt ihr, dass sie zu ihrem Schutz zum Innendienst verdonnert wird. Der Fall wird unterdessen immer mysteriöser. Eine junge Frau, die seit ihrem missglückten Selbstmordversuch kein Wort mehr spricht und in einer psychiatrischen Klinik seltsame Zeichnungen anfertigt, scheint in dem Fall verwickelt zu sein. Und dann geschieht ein weiterer Mord. Soziale Spannungen, Profitgier und kriminelle Energie ergeben in diesem Krimi eine explosive Mischung, die bis zum Ende spannend bleibt und mit einem überraschenden Ende aufwartet.

Schreibutensilien zum Verlieben
Ich gebe zu, ich zähle zu jener Spezies, die Bleistifte und Notizbücher sammeln wie andere Leute Uhren, Termine in Planer kritzeln und an keiner Papeterie vorbeigehen können ohne darin zu stöbern. Kein Wunder, dass mich das Buch „Schreibwaren – Die Rückkehr von Stift und Papier“ sofort angesprochen hat. Es ist nach verschiedenen Utensilien wie Bleistifte, Radierer, Spitzer und Notizbücher gegliedert und erläutert deren Ursprünge und kulturelle Entwicklung bis zur heutigen Zeit. Dabei erfährt man so manch interessante Fakten: zum Beispiel dass der Name des Unternehmens Sharp Electronics auf den 1915 entwickelten ersten mechanischen Bleistift namens Ever-Ready-Sharp-Pencil zurückzuführen ist. Das Buch öffnet auch den Blick für neue Betrachtungsweisen. So war der Bleistift für mich immer ein Symbol für skizzenhafte Notizen und Kreativität, da ich ihn nutze, um Gedanken und Ideen niederzuschreiben. Für Ingenieure und technische Zeichner dagegen steht der Bleistift für Maßarbeit und Präzision. Auch ein so schlichter Büroartikel wie die Büroklammer bietet eine riesige Bandbreite an Gestaltungsmöglichkeiten wie kreative Designer in Eindhoven beweisen.
Was diesen Band zu etwas ganz Besonderem macht, ist die Vorstellung ausgewählter Konzeptläden aus der ganzen Welt, die sich auf Schreibwaren spezialisiert haben. Die Gründer bzw. Geschäftsführer kommen selbst zu Wort und teilen mit uns ihre Philosophie, ihre Liebe zum Detail und ihre ganz persönlichen Lieblingsstücke. Der Inhaber von 'Choosing Keeping' in London wünscht sich, dass alltägliche Gebrauchsgüter als nationale Kultur-Ikonen angesehen werden und sieht einen Laden als ein Mini-Museum von Objekten. Solche Geschäfte sind auch Anlaufstelles für Requisiteure, die Gegenstände für historische Filme suchen. Die 'pencil lady' Caroline Weaver, Gründerin des Bleistift-Dorados 'CW Pencil Enterprise', vermittelt ihren Kunden Hintergrundwissen zu jedem einzelnen Bleistift. Die Ladeninhaber sind schon zu beneiden: Sie reisen viel, entdecken Marken- und Nischenprodukte, Vintage- und Design-Objekte in Japan, Italien, Prag oder Skandinavien und holen sich weltweit Inspirationen. Eine Stärke des Buchs ist auch, dass der Autor nicht nur in nostalgischen Erinnerungen schwelgt, sondern auch interessante Verbindungen von Alt und Modern zeigt wie zum Beispiel einen zweisprachigen Podcast über Stifte.
In diesem wunderschön gestalteten und reich bebilderten Band zu blättern ist ein wahrer optischer und haptischer Genuss. Am liebsten möchte man nach der Lektüre in den nächsten Schreibwarenladen rennen und sich eine eigene Sammlung schöner Stücke wie den legendären Radiergummi 'Pink Pearl' zulegen. Für alle, die ein Faible für Schreibutensilien, für formvollendetes Design und haptische Erlebnisse haben, ist dieses Buch ein Muss!

Brunchen und Chillen am Chiemsee
Vielleicht erinnert Ihr Euch an das Kaffeehaus Dinzler an der A8, von dem ich schon einmal geschwärmt habe. Weiter südlich an der Autobahn habe ich nun eine weitere tolle Frühstückslocation entdeckt: das Seewirts Strandhaus in Übersee direkt am Chiemsee. Eine Freundin feierte dort ihren runden Geburtstag und lud zu einem festlichen Sonntagsbrunch ein.
Das Strandhaus mit Übernachtungsmöglichkeiten bot genau den richtigen Rahmen dafür. Die Räume mit großer Fensterfront zum See sind modern und gemütlich eingerichtet und strahlen einen romantischen Charme aus wie eine private Skihütte in den Bergen. Die Geburtstagsgesellschaft verteilte sich an mehreren Holztischen und Loungesofas – und trotzdem war noch reichlich Platz für übrige Gäste.
Auch kulinarisch wurden wir verwöhnt. So ein üppiges und feines Frühstücksbuffet habe ich seit dem Hundehotel in Kärnten nicht mehr erlebt: neben Brot, Schinken, Lachs und Käse gab es viele „MyMuesli“-Sorten, Nüsse und Früchte, Kaiserschmarrn, Donuts und Torten sowie verschiedenste ausgefallene Dips. Auch die Getränkeauswahl – von Säften bis hin zu Wasser mit Ingwer-Orange- oder Limetten-Minze-Geschmack – ließ keine Wünsche offen. Obwohl ich mir reichlich Zeit ließ, fand sich in meinem Magen leider kein Platz mehr für die warmen Speisen wie Paella, gegrilltes Gemüse und Spätzle. Das nächste Mal würde ich gern im Sommer einen Abstecher dorthin machen und in den Hollywoodschaukeln im Beach-Loungebereich bei einem Cocktail den Seeblick genießen.

Lehrstück im Versagen
Jeder Mensch kennt vermutlich jemanden, dessen Leben genügend Stoff für einen Roman liefert. Liam, Protagonist der Geschichte „Fließsand oder eine todsichere Anleitung zum Scheitern“ von Steve Toltz hat sogar das Glück, mit solch einer Person seit seiner Jugend befreundet zu sein. Dies bringt Liam, der statt Polizist viel lieber Schriftsteller geworden wäre und noch auf seinen großen Durchbruch wartet, auf die Idee, ein Buch über seinen Freund Aldo Benjamin zu schreiben.
Dass Aldo eine ganz einzigartige Person ist, kann der Leser nach den ersten Kapiteln kaum bestreiten. Allein die Geschäftsideen, mit denen der mittellose Unternehmer zwar Investoren gewinnen, aber keine müde Mark verdienen konnte, füllen ein Buch für sich. „Lehrstücke im Versagen“ nennt Liam Aldos endlose Produkteinführungen. Höchst amüsant ist auch, wie sich Aldo ein Netzwerk von nützlichen Berufsvertretern wie Polizisten, Anwälte und Ärzte, allesamt „menschliche Feuerlöscher“ aufbaut, die ihm in jeder Lebenslage aus der Patsche helfen. Dies ist auch vonnöten, denn in der Patsche zu sitzen entwickelt sich für Aldo zu einem Dauerzustand. Er schlittert von einer Katastrophe in die nächste. Meint man, dass es nicht mehr schlimmer kommen kann, wird man eines Besseren belehrt.
Verstärkt wird diese Aneinanderreihung von Desastern auch stilistisch. Steve Toltz ist ein Meister der Aufzählungen, sei es von unsinnigen Produkten, die Aldo auf den Markt lancierte, von Dingen, die er hasst oder von Arten, wie ein Mensch nicht begraben werden will. Da kann ein Satz locker über eine Seite hinausgehen. Man wird förmlich in den Gedankenstrom des Erzählers hineingerissen und staunt über den fantastischen Einfallsreichtum und schrägen Humor. Eine explosive Vitalität zieht sich durch den gesamten Roman. Manchmal trägt der Erzähler jedoch zu dick auf und man weiß nicht recht, was er damit bezweckt. Soll man Aldos Hass auf die Welt, auf die Absurditäten und Ungerechtigkeiten im Leben teilen oder ist alles so verrückt und grotesk, dass es gar nicht ernst zu nehmen ist?
Der zweite Teil, der aus Aldos Sicht geschildert wird, verliert durch lange Ausschweifungen ein wenig an Schwung. Mit der Zeit nervte mich zunehmend die penetrante Auswalzung menschlicher Leidensfähigkeit. So ist der Roman durch den Wortwitz und die überbordende Fantasie durchaus lesenswert, kommt jedoch an Toltz’ erstes Werk „Vatermord und andere Familienvergnügen“, der mich vollends begeisterte, nicht ganz heran.

Sagenhafte Überlebenskünstler
Auf unserer Erde gibt es vielzählige Orte, die wir selbst gar nicht oder nur mit größtem Aufwand bereisen können. Zum Glück gibt es Kamerateams, die diese Strapazen für uns auf sich nehmen und mit atemberaubenden Landschaftsaufnahmen zurückkehren – zum Beispiel für die sechsteilige Doku-Reihe von Terra X mit dem Titel „Eine Erde, viele Welten“, die zur Zeit im ZDF gezeigt wird. In einem Zeitraum von drei Jahren haben die Teams 117 Reisen durch 40 Länder unternommen und sich in bislang unentdeckte Tier- und Naturwelten hineingewagt.
Die erste Folge führte unter anderem nach Komodowaren, eine der über 17.000 Inseln des Archipels Indonesiens, wo die größten Landechsen der Welt leben und zu wahren Kampfmaschinen werden, wenn sie ihre Beute verteidigen. In faszinierenden Bildern zeigt die Doku, wie durch vulkanische Explosionen Inseln entstehen und unter welchen Umständen ein überlebensfähiges Ökosystem entstehen kann. Viele entlegene Inseln haben gerade durch die Isolation ganz eigenständige Lebensformen hervorgebracht und konnten sich bis heute den Reichtum der Natur bewahren. Kaum zu glauben, dass es 25.000 Tierarten gibt, die nur auf Madagaskar zu finden sind – zum Beispiel Larven-Sifakas, die sich wegen der Nahrungsknappheit in den Dornenwäldern zu Akrobaten entwickelt haben und von Strauch zu Strauch springen. Viele Tierarten haben über Millionen von Jahren Überlebensstrategien entwickelt und sie permanent verfeinert. Auch die Galapagos-Inseln sind bekannt für ihre Artenfülle. Hart trifft es die jungen Meerechsen auf der Insel Fernandina. Kaum haben sie das Licht der Welt erblickt, schweben sie bereits in Lebensgefahr, da überall gierige Nattern lauern.
Ich bewundere den Mut und das Durchhaltevermögen der Filmteams, die in Norwegen im Tandemflug Steinadler filmten oder sich vor der lebensgefährlichen Brandung des Zavodovski Island im Südpolarmeer nicht abschrecken ließen, um zu Millionen von Pinguinen zu gelangen. Viele Aufnahmen sind nicht nur lehrreich, sondern auch amüsant, zum Beispiel das Gewusel von roten Inselkrabben auf der Weihnachtsinsel, wenn sie an die Küste düsen, um sich dort zu paaren – das Treiben an japanischen U-Bahnhöfen ist nichts dagegen. Nach den Themenschwerpunkten ‚Inseln‘ und ‚Wüste‘ sind heute die Berge dran. Die einzigartigen Landschafts- und Tieraufnahmen solltet Ihr Euch nicht entgehen lassen.

Kopfkino
Nach der Lektüre des Romans „Nachts die Schatten“ von Helwig Arenz fühlt man sich unweigerlich in seine Jugend zurückversetzt. Auch wenn der Protagonist Georg keine direkte Identifikationsfigur für mich war, konnte ich mich gut daran erinnern, wie ich bestimmte Situationen im Elternhaus ganz ähnlich erlebte.
Georg hat es wahrhaftig nicht leicht. Er kämpft nicht nur mit den typischen Unsicherheiten eines Heranwachsenden, sondern muss sich auch noch gegenüber seinen zwei älteren Brüdern Torsten und Kai behaupten. Einerseits bewundert er vor allem Kai, der sich alles traut, und sucht seinen Rat, als er sein erstes Rendezvous vor sich hat. Andererseits fühlt er sich oft unverstanden und ausgeschlossen. Das Einzige, was ihm hilft, sich in der Welt zurechtzufinden, Widersprüchliches zu akzeptieren und Geschehnisse zu verarbeiten, ist seine stark ausgeprägte Vorstellungskraft. Diese geht soweit, dass er sich nicht nur wilde Geschichten rund um seinen Bekanntenkreis ausdenkt und sie im Geiste ausschmückt, sondern auch Geister sieht – zum Beispiel in Gestalt eines Polizisten oder einer Frau im weißen Gewand. Stehen diese Erscheinungen für sein Gewissen oder lebt er nur seine überbordende Fantasie aus? Dies bleibt der Fantasie des Lesers überlassen.
Der Roman ist keine chronologische Erzählung, sondern vielmehr Moment- und Nahaufnahmen, die Georg in der Ich-Perspektive wiedergibt. Es sind Kleinigkeiten, bestimmte Gesten, die den Protagonisten treffender charakterisieren als jede ausführliche Beschreibung, zum Beispiel seine Gewohnheit, sich Essen in den Mund zu stopfen, um sich nicht am Gespräch beteiligen zu müssen. Das Unsichere, Zaghafte, Holprige und Bemühte in seinem Wesen wird sehr gut vermittelt. Besonders gut gefiel mir die Episode mit dem Titel „Esszimmerwelt“. Beschrieben wird eine scheinbar harmlose alltägliche Szene am Esstisch, in der der Vater Torsten zurechtweist. Welche panischen Gefühle dieses Gespräch, das in ähnlicher Form schon etliche Male stattgefunden hat, in Georg auslöst, entfaltet Helwig Arenz enorm ausdrucksstark. Seine einfallsreichen Metaphern und die Art und Weise, wie er das Geheimnisvolle verdichtet, faszinieren. Der Autor wuchs in Fürth auf und ist auch als Schauspieler tätig. Ihm ist ein zärtlich-einfühlsamer und sehnsuchtsvoller Roman gelungen, der die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens poetisch und berührend schildert.

"Schöne Aussicht"
Im Stadtviertel Uhlenhorst, dem geografischen Mittelpunkt Hamburgs, spielt die Geschichte „Töchter einer neuen Zeit“ von Carmen Korn – allerdings nicht in der heutigen Zeit, sondern vor knapp hundert Jahren. Das Alsterufer dort trägt den Namen ‚Schöne Aussicht’, da sie einen Blick auf den Michel, den Fernsehturm und zahlreiche Kirchtürme bietet.
Und welche Aussichten hatten die Frauen in der damaligen Zeit? Davon erzählt diese Geschichte, die sich um vier Frauen, ihre Freundschaft und ihre unterschiedlichen Lebenswege dreht. Henni und Käthe zum Beispiel beginnen im Frühjahr 1919 eine Ausbildung zur Hebamme an der Frauenklinik Finkenau. Henni ist ehrgeizig, hat viele Pläne, doch als sie sich in den Arzt Lud verliebt und schwanger wird, verläuft ihr Leben anders als erwartet während Käthe sich politisch engagiert und die Kommunisten unterstützt. Einen Einblick in höhere gesellschaftliche Schichten und in schicke Villen der Gründerzeit gibt uns die Figur Ida, die in eine unglückliche Ehe mit einem reichen Bankdirektor gezwungen wird. Da sich die Haushälterin Mia um alles kümmert, hat Ida nicht viel mehr zu tun, als ihrer Liebe zum Chinesen Tian nachzutrauern.
Durch die Heirat mit Lud lernt Henni seine Schwester Lina kennen – für mich die interessanteste Figur in dem Roman, da sie die Aufbruchsstimmung, die Neugier und den Mut zu einem emanzipierten Leben am stärksten verkörpert. Sie kann nicht nachvollziehen, warum ihre Schwägerin, die so viele Pläne und Ehrgeiz hatte, in jungen Jahren eine Familie gründet. Lina vertritt die Ideen der Reformpädagogik und unterrichtet an einer Versuchsschule, interessiert sich für den Expressionismus und zieht in eine Mansarde – bereit für einen Neuanfang.
Was die Handlung betrifft, hätte ich mir etwas mehr Spannung und überraschende Wendungen gewünscht. Doch die Stärken des Romans liegen für mich woanders. Carmen Korn versteht es, durch detailreiche Beschreibungen Figuren, Schauplätzen und der damaligen Epoche Leben einzuhauchen. Die Sehnsüchte der Figuren und ihre wachsende Angst vor dem Aufstieg der Nationalsozialisten sind immer wieder präsent. Auch die Charakterisierung der Männer kommt nicht zu kurz: zum Beispiel Käthes Mann, ein linker Romantiker, der in die KPD eintritt, Lud, der sich etwas Kindliches bewahrt hat und bei Frauen das Gefühl auslöst, ihn behüten zu wollen, oder der Arzt Theo Unger, der kein Glück bei Frauen hat.
Wer weiß, ob ich bei der Buchversion der Geschichte mit der gleichen Aufmerksamkeit gefolgt wäre wie diesem Hörbuch. Die Autorin liest selbst und beweist ein großes Talent dafür. Mal kühl-sachlich, mal empathisch zieht sie mit ihrer unverwechselbaren Stimme die Hörer in den Bann. Man kann nur hoffen, dass die porträtierten Frauen und ihre Nachfahren im nächsten Band der Trilogie auf schönere Aussichten im Leben hoffen dürfen.

Die Bookstore Girls
Ein Grund, warum ich mir so gern TV-Serien ansehe, ist, dass man in so viele verschiedene Berufe hineinschnuppern kann. Allein im letzten Jahr, wo ich die japanischen Serien für mich entdeckt habe, konnte ich in die Rolle einer Anwältin, Nachrichtensprecherin, Pilotin, Flugbegleiterin, Lehrerin, Kommissarin, Pianistin, Zeitarbeiterin, Ärztin, Hotelmanagerin, Redakteurin, eines Restaurantmanagers, Eishockeyprofis, Formel 1-Fahrers, Neurowissenschaftlers, Expeditionsleiters, Pianisten und und und ... hineinschlüpfen.
In der Serie „Fight! Bookstore Girls“, die ich zur Zeit schaue, gehe ich besonders auf, denn sie handelt vom Berufsalltag der Buchhändlerin Riko Nishioka, die zur Filialleiterin befördert wird. Seit 20 Jahren arbeitet sie mit Leidenschaft für die Kette Pegasus Books, auch wenn sie mit immer wieder neuen Hürden und Problemen wie sinkende Umsatzzahlen und neidische männliche Kollegen zu kämpfen hat. Hinzu kommt die neue übereifrige Angestellte Aki, die ihr das Leben schwer macht. Sie bringt zwar durch viele neue und pfiffige Ideen frischen Wind in die Truppe, sorgt aber durch ihre eigensinnigen und teils brachialen Methoden für viel Unmut im Team.
Beide Frauenfiguren imponieren mir – sowohl Riko, die zeigt, was gerade in turbulenten Zeiten gute Führung bedeutet, als auch Aki, die mit ihrem Ideenreichtum und Enthusiasmus das scheinbar Unmögliche möglich macht. Immer, wenn ich ihre Wohnung sehe, die sie stilvoll und gemütlich wie eine Privatbibliothek eingerichtet hat, könnte ich vor Neid erblassen. Es macht Spaß, mit den engagierten Buchhändlerinnen Comiclesungen für Kinder oder nächtliche Events zu erleben und ihre Begeisterung für Gedrucktes zu teilen. Als Riko gefragt wird, welches Buch ihr Leben verändert hat, sagt sie „Kitchen“ von Banana Yoshimoto. Ich glaube, die Geschichte werde ich ein zweites Mal lesen.

Die göttliche Maschine
Stellt Euch vor, Ihr geht auf Reisen und überall sieht es genauso aus wie zu Hause. Welch ein Alptraum! Solch ein Szenario zeichnet E. M. Forster in seiner Erzählung „The machine stops“ („Die Maschine steht still“), die nun in neuer Übersetzung erschienen ist.
Selbstfahrende Autos, Komfort und Sicherheit auf Knopfdruck in seinen vier Wänden ... an all das werden wir uns wohl früher oder später gewöhnen müssen. E. M. Forster hat dies alles aber schon 1909 kommen sehen, als er seine verstörende Kurzgeschichte verfasste. Hatte der Schriftsteller, der nach seinem Studium in Cambridge durch die Weltgeschichte reiste und so bekannte Romane wie „Zimmer mit Aussicht“ und „Wiedersehen in Howards End“ schrieb, hellseherische Fähigkeiten?
Seine Vision ist allerdings weitaus düster. Das Leben gleicht der Hölle und das nicht nur, weil die Menschen unterirdisch leben und jeglichen Kontakt zur Umwelt und Natur verloren haben. Alles, was sie umgibt, ist standardisiert: vom Stadtbild über die Einzelzelle bis hin zur Bettgröße. Ob Essensaufnahme, Unterhaltung oder Kommunikation – alles wird über eine allmächtige Maschine gesteuert. Menschen, die sich gegen das System auflehnen, werden als Gesetzesbrecher an die Erdoberfläche verbannt.
Besonders beängstigend fand ich den Gedanken, dass Menschen nur noch aus zweiter Hand leben und nur noch nach neuen Ideen suchen, weil sie selbst keine authentischen Erfahrungen mehr machen können. Wissen wird ausschließlich über Vorträge und Schriften überliefert – direkte Beobachtungen und persönliche Meinungen sind tabu.
Aber was passiert, wenn die Maschine anfällig wird für Pannen und irgendwann stillsteht? E.M. Forster zeigt die Konsequenzen unkritischer Technikgläubigkeit und völliger Abhängigkeit. Dass Harry den Apple Store scherzhaft „Die Kathedrale“ nennt, hat auf einmal einen bitteren Beigeschmack. Forsters damalige Zukunftsversion, die unserem Alltag erstaunlich nahe kommt, wirft viele aktuelle Fragen auf und ist absolut lesenswert.

Frohes Neues Jahr!
Ich hoffe, Ihr seid alle gesund und munter ins Neue Jahr gerutscht. Während der hoffentlich erholsamen Feiertage habt Ihr vielleicht neue Energien getankt, um ein neues kreatives Projekt zu starten? In dem Fall lege ich Euch das Meet Becky Workbook mit vielen Anregungen, Übungen und Buchtipps ans Herz.
Oder wie wäre es mit einem Online-Kurs, um etwas ganz Neues zu erlernen oder verstaubtes Wissen aufzufrischen? Auf YouTube findet man ja für so ziemlich alles eine Anleitung, aber man fühlt sich schnell von dem Angebot erschlagen. Viel übersichtlicher ist da schon eine Seite wie Skillshare, die verschiedenste kostenlose und kostenpflichtige Kurse in Kategorien unterteilt hat. Ob Design, Business, Technologie, Schreibkunst oder Handwerk – in jeder Rubrik werden vielzählige Trainings angeboten, zum Beispiel wie man Low-Budget-Filme dreht, Geschäftsideen entwickelt oder ausgefallene Blumenarrangements kreiert. Da ist sicher für jeden Geschmack etwas dabei.