Archiv 2016-10

Ordnung im Herzen
Ordnung zu halten, fällt mir nicht schwer. Nur wenn ich mir unseren Keller ansehe, denke ich, da geht noch was in Sachen Entrümpeln. Dieser Teil der Wohnung löst seit jeher bei mir Unbehagen aus, weil es mich daran erinnert, wie oft ich meine Mutter in den Keller begleiten musste, um Sachen hin- und herzuräumen ohne sichtbarem Ergebnis. Das ist vielleicht auch der Grund, warum ich neugierig auf die KonMari-Methode wurde und den Bestseller „The Life-Changing Magic of Tidying“ der Japanerin Marie Kondo gelesen habe. „To kondo“ ist mittlerweile ein Synonym für „radikal aufräumen“.
Was die Autorin aus ihrer Kindheit erzählt, bringt die Augen jeder Mutter zum Glänzen. Schon in frühen Jahren hatte sie Freude am Aufräumen und Ordnungssystemen verschiedenster Art. Sie fand darin ihre Berufung und gibt heute als selbstständige Beraterin ‚Nachhilfe’ beim Entrümpeln und Ordnung halten. Einerseits stelle ich mir ihre Arbeit spannend vor: Wer bekommt schon einen so intimen Einblick in die Lebensgeschichte und Besitztümer anderer Menschen und entdeckt dabei Kuriositäten, dass es nie langweilig wird. Andererseits könnte es ermüden, sich ständig mit überflüssigem Krempel fremder Menschen zu beschäftigen und Überzeugungsarbeit zu leisten.
Ganz gefährlich ist das Wörtchen ‚Irgendwann’. Irgendwann könnte ich es brauchen. Irgendwann könnte ich es verschenken. Irgendwann werde ich das Buch lesen. Irgendwann werde ich die alten Klamotten wegwerfen. Meine Schwäche ist, zu viele Vorräte anzulegen, um auf die Bemerkung „Dieses und jenes ist aus“ blitzschnell mit „Haben wir noch im Lager“ zu kontern. Am liebsten wäre mir ein kleiner Supermarkt im Keller, der sich von allein auffüllt. Zum Glück geht mein Hortwahn nicht so weit wie bei einigen verrückten Kunden von Marie Kondo, die verschämt 60 Zahnbürsten, 20.000 Wattestäbchen oder 30 Schachteln Frischhaltefolie zu Tage förderten.
Einige Anregungen, die ich ganz hilfreich finde, sind die folgenden:
- Räume nicht nach Zimmern, sondern nach Kategorien auF
- Räume in einem Rutsch auf, statt dich Schritt für Schritt vorzuarbeiten
- Behalte nur, was dir Freude macht. Besitze nur, was du brauchst.
Den letzten Punkt könne man am besten umsetzen, wenn man jedes Teil tatsächlich in die Hand nimmt und erfühlt. So zeige eine aufgeräumte Wohnung, welche Dinge einem wirklich wichtig seien. Man lernt sich dadurch neu kennen, erinnert sich an verborgene Interessen und krempelt möglicherweise sogar sein Leben um. Auf jeden Fall stärke die KonMari-Methode die Fähigkeit der Entscheidungsfindung. Am meisten gefällt mir die Wertschätzung, die die Aufräumexpertin den Dingen entgegenbringt. Bei der Heimkehr begrüßt sie ihre Wohnung, leert täglich ihre Handtasche aus und bedankt sich bei ihren Dingen dafür, dass sie gute Dienste geleistet haben.

Chef im Glitzeranzug
Sollte man seinen Job nicht lieben, wenn man gut darin sein möchte und soviel Zeit damit verbringt? Meine bisherige Überzeugung geriet leicht ins Schwanken, als ich auf den Buchtitel „Liebe dein Leben und nicht deinen Job“ stieß. In seinem aktuellen Buch gibt der Kommunikationsexperte Frank Behrendt zehn Ratschläge für ein entspanntes (Berufs-)Leben, die er einmal während der Wartezeit bei einem Friseur für ein Magazin niederschrieb.
Einer von ihnen lautet zum Beispiel, sich ernst, aber nicht zu wichtig zu nehmen und sich bewusst zu machen, dass man nicht nur eine Rolle im Leben hat. Vom klassischen Verständnis einer Work-Life-Balance hält der Autor wenig, da für ihn die Grenzen fließend sein dürfen. So macht es ihm nichts aus, im Urlaub seine Mails zu checken oder abends auf der Couch Arbeitsunterlagen durchzugehen. Bei Unternehmern und Selbstständigen leuchtet mir das ein, aber Angestellte möchten nach Feierabend sicher nicht über eine anstehende Aufgabe oder einen Konflikt mit einem Kollegen grübeln und sind froh, wenn sie einmal richtig abschalten können.
Der Autor nennt aber auch Aspekte, in denen ich ihm hundertprozentig zustimme – zum Beispiel die Möglichkeiten der Selbstbestimmung. Ich finde es toll, dass er sich einfach traute, einen „Daddy-Dienstag“ einzuführen, um regelmäßig Zeit mit seiner Tochter, die bei seiner Ex-Frau lebt, zu verbringen. Auch ich habe die Erfahrung gemacht, dass man mehr Einfluss auf die eigene Arbeitsgestaltung nehmen kann als man glaubt – ganz unabhängig von der Position. „Als Chefin kann ich das doch nicht bringen!“ ist ein Glaubenssatz, den ich schnell verwerfen konnte, wenn ich nur kreativ genug war, mir alternative praktikable Lösungen auszudenken. Die allgemeine Tendenz zu flexiblen Arbeitsmodellen sollte man sich also unbedingt zunutze machen. Auch Behrendts Empfehlungen, eine ordentliche Mittagspause zu machen und öfters an die frische Luft zu gehen, kann ich nur unterstreichen. Warum nicht einen Spaziergang mit Geschäftspartnern am Rhein unternehmen statt stundenlang in einem Konferenzraum zu hocken.
Manchmal fand ich seine Ausführungen zu glatt und makellos. Er beschreibt zwar auch einige schwierige Phasen in seinem Leben, doch unterm Strich formt sich das Bild eines beruflichen Überfliegers und vorbildlichen Familienvaters, der sehr oft betont, wie wichtig ihm das gemeinsame Frühstück zu Hause ist, und der auf Betriebsfesten gern seinen Lieblingssänger Howard Carpendale im Glitzeranzug mimt. Seine Begeisterung für Winnetou-Figuren, die positive Energien in ihm freisetzen, oder für einen Matchbox Jeep, mit dem er während Telefonkonferenzen spielt, sprechen wahrscheinlich eher männliche Leser an. Es ist ein sehr flüssig und verständlich geschriebenes Buch, in dem ich persönlich nicht so viele Anregungen finden konnte wie in vergleichbaren Ratgebern.

Wörter als Verbündete
Hildegard Palm, Protagonistin der Romantrilogie von Ulla Hahn, ist zurück. Im dritten Teil mit dem Titel „Spiel der Zeit“ ist die Tochter einer rheinischen Arbeiterfamilie aus dem ländlichen Dondorf nach Köln gezogen, um Germanistik zu studieren. Die Kornblumen auf dem Buchcover symbolisieren die Wanderschaft. Passend dazu unternehmen wir gemeinsam mit Hildegard, kurz Hilla genannt, einen Streifzug durch die Stadt, „gehen, sehen und lauschen“ und nehmen die geballten Eindrücke in uns auf. Die Sprachverliebtheit und Fabulierkunst der Autorin ist dabei so einnehmend, dass sich sogar die Vorführung eines modernen Mixers in einer Einkaufspassage höchst amüsant und spannend liest.
Wie in den 60er Jahren die Technik Einzug in den Wohnungen hält, ist nur ein Aspekt, der den damaligen Zeitgeist vor unseren Augen aufleben lässt. Hilla lebt sich im katholischen Studentinnen-Kolleg ein und hört auf Feten Songs der Beatles und Rolling Stones. Auf einer Kostümparty verliebt sie sich in den vermögenden Intellektuellen Hugo, der ihre Liebe zur Poesie teilt und sie geistig anfeuert. Er ist es auch, der ihr hilft, ein düsteres Kapitel in ihrer Vergangenheit aufzuarbeiten. Mit Hugo an seiner Seite ist Hilla in der Lage, ein neues Leben zu beginnen. Ihm zuliebe nimmt sie an Friedensdemonstrationen, Teach-Ins und Grundsatzdiskussionen teil, obwohl sie mit Politik nicht viel am Hut hat. Offen gibt sie zu, dass sie sich viel lieber mit ihrer literarischen Arbeit zu Hause beschäftigen würde.
Was diese autobiografisch gefärbte Erzählung zu etwas Besonderem macht, ist der Bezug zur Sprache, der die gesamte Trilogie durchzieht. Die Autorin beschäftigt sich eingehend damit, welchen Einfluss Wörter und ihr Gebrauch auf unser Leben haben. Das Aussprechen von Wörtern kann helfen, ein Trauma zu bewältigen oder Ängste zu überwinden. Ein Wort wie „Student“ kann durch gesellschaftliche Ereignisse völlig andere Assoziationen wecken, von akademischer Unnahbarkeit bis hin zu Gammler und Randalierer. Sprachbegeisterte wie ich werden ihre Freude an diesen Exkursen haben; alle anderen könnten es als langatmig empfinden, wenn Hilla und Hugo sich mit Schiller, Nietzsche oder Hölderlin beschäftigen und detaillierte Textanalysen betreiben. So überzeugt der dritte Teil der Hilla-Romane vor allem durch die Sprachkraft und das interessante Gesellschaftspanorama und weniger durch eine spannende Handlung.

Einsames Celebrity Girl
Könnt Ihr Euch einen Geschäftsmann vorstellen, an dessen Smartphone ein kitschiger Anhänger baumelt? Wahrscheinlich nicht, doch in Japan ist es gar nicht mal so ungewöhnlich. Paare tragen gern den gleichen Anhänger als Ausdruck ihrer Verbundenheit, andere pflegen auf die Weise schöne Erinnerungen.
Auch die sechsjährige Anne in der japanischen TV-Serie „Oh! My Girl!!“ hat einen Delfin als Stofftier an ihrem Handy hängen – ein Andenken an ihre Mutter, die Anne einfach bei ihrem Stiefbruder Kotaro zurücklässt, um in Hollywood als Schauspielerin Karriere zu machen. Beide sind „not so amused“. Kotaro hält sich als freier Journalist und ambitionierter Schriftsteller mehr schlecht als recht über Wasser und kann mit der frechen Göre gar nichts anfangen, zumal das Verhältnis zu seiner Stiefschwester schon immer desaströs war. Auch der verwöhnten Anne, die ein luxuriöses Leben gewöhnt ist, widerstrebt die Umstellung. Als die beiden zu dritt mit Annes Managerin unter einem Dach wohnen, ist Ärger vorprogrammiert.
Dass sich Nichte und Onkel trotz ihrer Gegensätze annähern, ist nicht schwer zu erraten. Doch die Story birgt erstaunlich viele Facetten, die nicht nur für großartige Unterhaltung sorgen, sondern auch tief berühren. Wie fühlt sich ein Mädchen wie Anne, das an seinem Versprechen ihrer Mutter gegenüber eisern festhält, eine erfolgreiche Schauspielerin zu werden, von dieser jedoch völlig vernachlässigt wird? Was macht sie durch, als sie erfährt, wer ihr wahrer Vater ist? Durch die unerwartete Begegnung mit Anne erweitert Kotaro in vielerlei Hinsicht seinen Erfahrungshorizont. Er zeigt immer mehr Mitgefühl für Anne, die nicht nur auf der Bühne, sondern unter dem Druck der Produktionsfirma auch privat die Rolle einer glücklichen Tochter spielt und damit nur ihre Einsamkeit kaschiert. Er begreift auch, dass es mehrere Wege gibt, ein guter Vater zu sein. Mit viel Witz und Tiefgang zeigt die Serie das Aufeinanderprallen von Wertvorstellungen, Idealen und Erwartungen an eine Familie.

Tragödien des Alltags
Richard Yates war mir bisher nur als Autor von “Zeiten des Aufruhrs“ bekannt. Die Geschichte einer zerrütteten Ehe hinterließ damals einen bleibenden Eindruck, zumal ich die Verfilmung und schauspielerische Glanzleistung von Leonardo DiCaprio und Kate Winslet als sich fetzendes Ehepaar gesehen hatte.
In den neun Erzählungen aus dem Band „Eine letzte Liebschaft“ geht es ebenfalls um Beziehungskonflikte, doch nicht nur. Yates widmet sich diesmal einem größeren Themenspektrum und erzählt beispielsweise von Männern, die auf einer Tuberkulose-Stationin in Jugenderinnerungen schwelgen oder Kriegserlebnisse austauschen.
Ich war erstaunt, wie gut sich der Schriftsteller in die jeweiligen Charaktere, sogar in die Seele eines jungen Mädchens, hineinversetzen kann wie zum Beispiel in der Erzählung „Ein persönliches Besitzstück“. Eileen findet ein 50 Cent Stück – an sich nichts Bedeutungsvolles, doch für das Mädchen schon. Sie wollte immer etwas eigenes besitzen und ein Geheimnis vor ihrer gebieterischen Tante hüten, die sie auf Schritt und Tritt kontrolliert. Als die Tante von dem Fund erfährt, mündet eine für das Mädchen nette kleine Überraschung im Alltag in eine Katastrophe. Yates schreckt nicht vor drastischen Formulierungen zurück, um zu vermitteln, welchem Unrecht und welcher Willkür von Erwachsenen die Unschuldige ausgesetzt wird.
Manchmal wäre es spannender gewesen, die Überschrift vorher nicht zu kennen. So fragte ich mich in der Erzählung „Eine letzte Liebschaft“ bei jeder neuen Begegnung, die eine Weltenbummlerin macht, ob dies denn nun endlich die besagte letzte Liebschaft ist. Wie man es von einer gelungenen Kurzgeschichte erwarten kann, belohnt uns Yates auch hier mit einem überraschenden Schluss.
Mit Abstand am meisten berührt hat mich die Erzählung „Ein genesendes Selbstbewusstsein“. Liegt es daran, dass es um Selbst- und Fremdbild und die typischen Kommunikationsprobleme in einer Ehe geht, also Yates’ Spezialthema? Vielleicht. Kenntnis- und nuancenreich schildert er, wie unterschiedlich ein einfacher Satz wie „Ruh dich aus oder was auch immer du tust“ ausgelegt werden kann. Ein krank geschriebener Ehemann malt sich ein bevorstehendes Streitgespräch mit seiner Frau in allen Details aus. Es hat mich amüsiert, aber auch nachdenklich gestimmt, wieviel Energie er aufbringt, um sich verschiedenste Szenarien auszumalen und Überlistungstricks zu überlegen, denn solche Situationen kommen einem sehr bekannt vor. Der Schluss trieb mir sogar die Tränen in die Augen. Mein Fazit: Das Buch enthält ein paar schwächere und mehrere richtig starke Geschichten, die meine Neugier auf seine zahlreichen Romane geweckt haben.

Das Herz berühren
Eine gute Adresse für hervorragende Cocktails war früher die Hong Kong Bar in der Kapuzinerstraße. Seit etwa zwei Jahren befindet sich dort ein Lokal mit ähnlich klingendem Namen: „Mongkok“. So heißt auch ein belebtes Stadtviertel von Hong Kong. Die reichhaltige Auswahl an Cocktails ist geblieben und auch das Essen steht dem Vorgängerlokal keineswegs nach, wie wir kürzlich feststellen konnten.
In letzter Zeit stört mich der hohe Lärmpegel in Restaurants, der jegliche Unterhaltung am Tisch erschwert – zuletzt im Sushi-Lokal Sansaro. Diesmal ergatterten wir erfreulicherweise einen ruhigeren Platz gegenüber der Bar und konnten es uns in komfortablen breiten Polsterstühlen bequem machen. Beim Studieren der Speisekarte fiel mir gleich die große Auswahl an Dim Sums auf, für die ich eine Schwäche habe. „Dim Sum“ heißt wörtlich übersetzt „das Herz berühren“ und steht in China ganz allgemein für traditionelle Spezialitäten, die als Snack gereicht werden. Hierzulande assoziiert man vor allem mit Gemüse oder Fleisch gefüllte gedämpfte Teigtaschen aus der kantonesischen Küche.
Da ich das Gericht selten selber zubereite, stellte ich mir gleich eine ganze Mischung verschiedener Sorten zusammen: Bereits die Wan Tan Suppe als Vorspeise enthielt neben Seealgen Teigtaschen. Dann folgte ein bunter Dim Sum Mix mit Füllungen wie Tofu, Shiitake, Lotuswurzel, Ente, Schweinefleisch, Chinakohl und Shrimps. Dazu gab es knusprig frittierte Süsskartoffeln in scharfer Szechuan Mayonnaise. Meine Freunde verließen sich lieber auf bewährte Klassiker wie knusprige Ente in Kokosmilch mit Gemüse aus dem Wok und beobachteten belustigt, wie sich die Bambuskörbe vor mir türmten. Alles schmeckte sehr deliziös. Es waren eben lauter kleine Leckerbissen, die das Herz berühren.

Die Welt der Flapper Girls
Eines konnte man von den schillernden Frauen aus den Roaring Twenties gewiss lernen: die Kunst der Selbstinszenierung. Mitten unter ihnen war Zelda Fitzgerald, die meist im Schatten ihres Ehemannes und weltberühmten amerikanischen Schriftstellers F. Scott Fitzgerald stand. Welche erzählerische Begabung sie selbst besitzt, beweist sie in ihren Erzählungen „Himbeeren mit Sahne im Ritz“.
In jeder Geschichte steht eine andere weibliche Persönlichkeit im Mittelpunkt: die clevere und entschlossene Gracie in New Heidelberg, die lebenshungrige Harriett in Jefferssonville oder die autoritäre und wankelmütige Helena in New York. Die Autorin entwirft ein breites Panoptikum an Figuren, die in ihren Ambitionen und Hoffnungen verstrickt sind, und man kann sich gut vorstellen, dass Zelda tatsächlich ähnlichen Menschen in ihrem Leben begegnet ist. Zeitweise hat man Mühe, bei den zahlreichen Stationen mitzuhalten, kann jedoch dank der glänzend formulierten Sprache immer wieder genussvoll in die neue Szenerie eintauchen. So entfaltet sich ein authentisches Bild der High Society, in der sich vergnügungssüchtige Eisenbahnmagnaten, Bankiers und Großunternehmer tummeln, Frauen in den elegantesten Ozeandampfern von New York nach Paris jetten und im Ritz Champagner schlürfen. ‚Flapper’ wurden diese jungen Frauen genannt, die gern tranken rauchten, tanzten und Jazz hörten.
Manchen von ihnen wird alles geschenkt. Frei von finanziellen Sorgen können sie ihre Launen ausleben und ihre Begierden befriedigen. Doch gerade jene Frauen, denen es an nichts zu fehlen scheint, versprühen ein Gefühl des Mangels und der Rastlosigkeit. Andere wiederum träumen in einem Provinznest in den Südstaaten von einer Tanzkarriere in New York und arbeiten hart dafür, bis sie schließlich erkennen müssen, dass nicht jede für den Broadway bestimmt ist.
Fitzgerald präsentiert die mannigfaltigen Frauenfiguren wie auf einem Laufsteg und beschreibt detailreich ihre Außenwirkung. Was sie jedoch tief im Inneren fühlen, bleibt dem Leser verborgen. So blieben die Charaktere für mich größtenteils unnahbar. Wie die Autorin ihre sinnlichen Eindrücke der verschiedenen Begegnungen und Schauplätze und das Lebensgefühl der Goldenen Zwanziger beschreibt, habe ich dagegen sehr genossen.

Eine Muse muss her
Als Modeschöpferin eine kreative Blockade zu haben, kann ziemlich hart sein. Noch härter kann es aber die Mitarbeiter des Modelabels treffen, die von ihren Ideen abhängig sind, wie Hélène und ihr Chef Alan Bergam in der französischen Komödie „Chic!“.
Alicia Ricosi, grandios gespielt von Fanny Ardant, wird von ihrem Freund verlassen und stürzt in ein künstlerisches Tief. Als sie zufällig in ein Gespräch mit Hélènes Landschaftsgärtner Julien verwickelt wird, ist sie wie verwandelt. Er scheint der Einzige zu sein, der Alicia zu einer Inspiration verhelfen und die geplante Kollektion doch noch retten kann. Und so nehmen die Dinge ihren verrückten Lauf. Hélène soll den Gärtner als Muse für die Künstlerin gewinnen. „Tic-tac, tic-tac!“, so treibt der herzlose Chef Hélène an, denn der Präsentationstermin rückt immer näher.
Dummerweise hat Hélène aus einer Laune heraus ausgerechnet jenen Gärtner gefeuert, doch für ihre Karriere ist sie bereit, über ihren Schatten zu springen und zur Not auch eine skrupellose Tat zu begehen, wie zum Beispiel eine Yacht zu versenken. Tyrannisch und manipulativ zu handeln, hat sie schließlich von Alicia gelernt. So gelingt es ihr schließlich, Julien zu seiner neuen Rolle und Aufgabe zu überreden. Dass sich die beiden näher kommen, ist zwar vorhersehbar, doch charmant umgesetzt. Erst Alicia ihre extravaganten Aktionen auf die Spitze treibt, um in der Nähe ihrer Muse zu sein, erkennt Hélène den Wahnsinn, den sie Tag für Tag durchlebt. Vermutlich betrachtet sie den verrückten Zirkus zum ersten Mal mit den Augen eines Außenstehen, und zwar Juliens, und hinterfragt ihre Arbeit und ihre Lebensziele.
„Chic!“ ist ein Filmgenuss vom Feinsten mit viel Situationskomik. Wie Hélène potentielle Musen für Alicia rekrutiert, aus lauter Verzweiflung in ihre Sauna einzieht oder ihr Chef das Team antreibt wie Napoleon sein Heer, da bleibt kein Auge trocken. Mit typisch französische Charme, Esprit und Selbstironie nimmt der Film von Jérôme Cornuau die Modewelt, Diven und Starallüren auf die Schippe. Die Schauspieler Marina Hands und Eric Elmosnino sind für mich eine echte Neuentdeckung.

Das Gift der verschwiegenen Wahrheit
Nach langer Zeit kam ich mal wieder in den Genuss eines Hörbuchs, das mir eine Bekannte lieh. Bei Hörbüchern werde ich normalerweise leicht abgelenkt und verliere schnell den Faden. Beim Roman „I saw a man“ von Owen Sheers passierte mir das allerdings nicht. Dafür sorgte nicht nur der mysteriöse Anfang und die vielen Wendepunkte, sondern auch an Devid Striesow, der die Geschichte als neutraler Betrachter und dennoch sehr eindringlich und dramatisch vorträgt.
Zunächst lernen wir den Protagonisten Michael Turner kennen, der eine Weile in New York lebte, um sich vom Journalisten zum Schriftsteller weiterzuentwickeln und dort ein erfolgreiches Buch über zwei Außenseiter der amerikanischen Gesellschaft veröffentlichte. Er lernt die Fernsehjournalistin Caroline kennen, heiratet sie und lässt sich mit ihr in Wales nieder. Das Eheglück ist jedoch von kurzer Dauer, denn seine Frau kommt bei ihren Recherchen für eine Reportage in Pakistan ums Leben.
Und schon sind wir bei dem schicksalhaften Moment, der eine Katastrophe in zwei Familien in weiter Entfernung auslöst. Schuld an Carolines Tod ist der amerikanische Offizier Daniel McCullen, der vom Luftwaffenstützpunkt in der Wüst Nevadas die Drohne abschoss. Nun werden die Geschehnisse aus seiner Sicht geschildert und wir erfahren, dass er Michael einen persönlichen Brief schreibt, um sein Gewissen zu erleichtern.
Michael mietet derweil in London eine Wohnung und versucht, den Tod seiner Frau zu verarbeiten. Halt und Trost findet er bei seinen Nachbarn Josh und Samantha Nelson, mit denen er sich anfreundet. Als er eines Tages das Haus der Nelsons durch die Hintertür betritt und eine fatale Entscheidung trifft, wird er von einem Moment auf den anderen selbst zum Schuldigen und tritt eine neue Ereigniskette los. Um Verlust und Schuld, Wahrheit und Geheimnisse geht es in diesem Roman, der sich keinem bestimmten Genre zuordnen lässt. Werden sich die drei Männer, die sich jeder auf ihre Weise schuldig gemacht haben, ihrer Verantwortung stellen? Michaels Romanmanuskript „Der Mann, der den Spiegel zerbrach“ könnte Aufschluss darüber geben.

König von Dänemark
Journalisten, die auf eigene Faust in einem Fall ermitteln, sind nichts Neues in der skandinavischen Krimilandschaft. Dennoch bringt die Figur Karin Sommer, Protagonistin der Geschichte „Ein anständiger Mord“ von Gretelise Holm frischen Wind in die Riege: Sie ist klug, wachsam, menschlich und voller Selbstironie. Als Kriminalreporterin bei der „Sjaellandsposten“, einer Tageszeitung in der Provinz Südseelands, berichtet sie eines Tages über ein Familiendrama, bei dem der Vater offenbar zuerst Frau und Kind und anschließend sich selbst umgebracht hat. In den Ermittlungen der örtlichen Polizei stößt Karin jedoch auf widersprüchliche Aussagen und stellt auf eigene Faust Nachforschungen an. Dabei gerät sie selbst in Lebensgefahr, erhält eine seltsame Botschaft von einem ‚König von Dänemark‘ und setzt obendrein ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel.
Man merkt, dass die in Dänemark sehr beliebte Schriftstellerin selbst als Journalistin tätig war und mit dem Redaktionsalltag bestens vertraut ist. Die einzelnen Mitarbeiter – vom Chefredakteur mit seiner abfälligen Meinung über alternde Frauen bis hin zum jungen Praktikanten, der bis zum Schluss zu Karin hält – werden gut charakterisiert und liefern witzige Dialoge. Dann geschehen weitere Morde, die eine Verbindung zur litauischen Mafia und dem Handel mit Prostituierten vermuten lassen. Hier holt die Autorin für meinen Geschmack zu weit aus, um sich mit politischen, sozialen und gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen. Weitaus interessanter fand ich den Monolog des Täters, der zwischendurch immer wieder sein Wort an den Hörer richtet, sich jedoch nicht zu erkennen gibt. Es handelt sich um einen grausamen Psychopathen, der die Kläglichkeit seines Vaters verurteilte und sich selbst zum Richter ernannte. Die Erklärung für seine Selbstjustiz lässt einem einen kalten Schauder über den Rücken laufen: Er habe lediglich die Prinzipien des Marktes – die größtmögliche Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und die Maximierung des Profits – auf sein persönliches Handeln übertragen.
Trotz einiger langatmiger Szenen war es ein spannendes Hörerlebnis mit einer sympathischen Hauptfigur, abwechslungsreichen Nebenschauplätzen, interessanten philosophischen Gedanken und einer überraschenden Auflösung.

Das Gesetz des Dschungels
Dass es in musikalischen Ensembles lange nicht so harmonisch zugeht, wie die Darbietung auf der Bühne vermuten lässt, bekomme ich aus Erzählungen meiner Mutter hautnah mit. Zickenkrieg im japanischen Frauenchor ist ganz und gar keine Seltenheit. Von Hauen und Stechen handelt auch die verrückte Serie „Mozart in the Jungle“ – allerdings nicht im Chor, sondern in einer fiktiven New York Symphony.
Rodrigo De Souza, neuer Stardirigent aus Mexiko, hat das Zepter übernommen und soll der Truppe neuen Glanz verleihen. Für die junge Oboistin Hailey Rutledge ist es die langersehnte Chance, bei den New Yorker Symphonikern Fuß zu fassen. Für einen festen Platz reicht es anfangs noch nicht, doch sie nimmt fleißig Unterricht bei der tyrannischen ersten Oboistin und darf derweil als persönliche Assistentin Rodrigos wertvolle Erfahrungen hinter den Kulissen sammeln und so wichtigen Tätigkeiten nachgehen wie den perfekten Mate-Tee für ihren exzentrischen Chef zu kochen.
Die von Amazon produzierte Serie basiert auf dem Buch „Mozart in the Jungle: Sex, Drugs, and Classical Music“. Darin beschrieb die Oboistin Blair Tindall 2005 ihr Leben als Profimusikerin in New York. Ob sie tatsächlich so vielen durchgeknallten Musikern begegnet ist wie dem Pauker und Drogendealer des Orchesters, der Cellistin und Verführerin Cynthia oder Haileys Mitbewohnerin Elizabeth, die eine WG-Party nach der anderen schmeißt und ihr ganzes Erbe auf einer Reise verprasst? Am überzeugendsten und authentischsten wirkt die Figur der Gloria. Als Treuhänderin steckt sie ihre ganze Energie in Gesellschaftsgalas und treibt mit großem Eifer Spenden ein.
In der zweiten Staffel begleiten wir die Truppe auf eine Tournee nach Lateinamerika und begegnen auch prominenten Künstlern wie Lang Lang. Ich bin gespannt, mit welchen unkonventionellen Ideen uns Rodrigo noch überrascht in dieser Serie, die den Golden Globe als beste Comedyserie erhielt.