Archiv 2016-09

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Die Baumeister der Welt

Stefan Zweig hat die Gabe, Biografien so lebendig zu schreiben, als seien es epische Romane. Auch seine Essays „Drei Meister: Balzac, Dickens, Dostojewski“ lesen sich so spannend wie seine fiktiven Geschichten „Unruhe des Herzens“ oder „Rausch der Verwandlung“. Dabei gibt er nicht nur interessante Einblicke in das literarische Schaffen der drei großen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, die zu seinen großen Vorbildern zählen, sondern ergründet dabei auch die Psychologie der Romanciers. 
Besonders interessierten mich seine Ausführungen über Balzac, der zweifellos zu meinen Favoriten zählt und mir während des Studiums etliche spannende Lektürestunden beschert hat. Ich habe viel von ihm, aber bisher nichts über ihn gelesen. Umso neugieriger war ich zu erfahren, welche Motivation den französischen Dichter antrieb – oder sollte ich besser sagen, welche Persönlichkeit? Es war Napoleon, der ihm in seinem Schaffensprozess als Vorbild diente. So wie Napoleon mit seinem Schwert auf Eroberungszug ging, versuchte Balzac mit seiner Feder gierig die ganze Weltfülle aufzusaugen. Sein Ehrgeiz bestand darin, die Vielfalt des Lebens in ein anschauliches, übersichtliches System zu bringen. So entstand die Comédie Humaine mit unzähligen Figuren, die jeden Menschentypen abdecken. Balzac machte Paris zum Zentrum und Frankreich zum Umkreis der Welt, zog dabei mehrere Zirkel, die verschiedenste gesellschaftliche Schichten wie den Adel, die Geistlichen, die Arbeiter, die Dichter und Gelehrten einschlossen. Darin liegt auch für mich die Faszination seiner Romane: die Charaktere hängen an der Illusion des Lebens, sei es Geld, Macht, Liebe, Kunst oder Freundschaft und werden von unersättlichem Ehrgeiz und Besessenheit getrieben bis sie schließlich tief fallen.
Weit entfernt vom napoleonischen Temperament sind die Helden in Dickens Werken. Laut Zweig sind sie bescheiden, mit dem Mittelmaß zufrieden und doch voller Sinnlichkeit und Lebendigkeit. Glück bedeutet für sie, ein beschauliches, sittsames Leben zu führen, Geborgenheit in einer Familie zu finden und die Kleinigkeiten im Leben zu schätzen. 
Damit haben sie auch sehr wenig gemein mit den Helden Dostojewskis. Diese suchen keineswegs das Mittelmaß, sondern – ganz im Gegenteil – die gegensätzlichen Pole des Lebens in ihren stärksten und berauschendsten Formen. Zweig erläutert, dass Dostojewski den Abgrund und die Tiefe des Lebens liebte und in seinen Romanen das Dämonische des Zufalls und die innere Zerrissenheit der Figuren thematisierte. Richtig leben hieß für ihn, beide Gegensätze des Lebens, das Gute und das Schlechte intensiv auszuleben. 
Bei Zweig bewundere ich immer wieder das unerschöpfliche Repertoire seines Vokabulars und seine Fabulierkunst, ganz gleich ob er Emotionen beschreibt oder philosophische Themen erörtert. In jedem kleinsten Nebensatz stecken Kraft und Passion, die einen mitreißen. Hinzu kommt, wie belesen dieser Schriftsteller ist. Wie schafft er es bloß, nicht nur die umfangreichen Werke dieser drei Dichter zu lesen, sondern sie auch noch so genau zu analysieren und darüber Bücher zu schreiben? Ich werde jedenfalls noch eine ganze Weile damit beschäftigt sein, aus seiner Sammlung „Die Baumeister der Welt“ weitere Essays von ihm über Tolstoi, Stendhal, Nietzsche etc. zu lesen. 
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Wundersame Vermehrung

Harrys Handy- und Uhrensammlung wächst langsam, aber stetig. Da kann ich nur froh sein, dass sie nicht so viel Platz einnimmt wie Kühlschränke, die sich in Maries Wohnung türmen. Marie ist die Protagonistin des französischen Romans mit dem treffenden Titel „Givrée“ – ein Ausdruck für sehr kalt und verrückt. Nicht minder originell ist der deutsche Titel „Die wunderbare Welt des Kühlschranks in Zeiten mangelnder Liebe“. 
Die Geschichte beginnt damit, dass Maries frisch erworbener Kühlschrank defekt ist. Als sie ihn bei der Hotline des Herstellers reklamiert, tritt sie durch fehlerhafte Kommunikation und übertriebenem Service eine Lawine los. Dummerweise funktioniert auch das Ersatzgerät nicht und die übereifrigen Angestellten beliefern Marie laufend mit neuen Geräten. So werden aus zwei Kühlschränken schnell mal vier, sechs, zwölf, bis schließlich 17 Geräte in ihrer Wohnung herumstehen – allesamt funktionsuntüchtig. Da ist teurer Rat gefragt – doch von wem? Zur Auswahl stehen der nette Mann von der Hotline, ihr Liebhaber sowie ihr guter Freund und Schriftsteller. Während das fehlende Thermostat aus Indonesien zum Versand bereit liegt, stürzen sich die Medien auf die Story von der vermeintlich unersättlichen Kühlschranksammlerin.
Am erstaunlichsten ist, dass die Betroffene sich überhaupt nicht aus der Fassung bringen lässt. Wo andere schon längst ausgeflippt wären, zeigt Marie kühle Selbstbeherrschung. Oder schwindet nur ihre Widerstandsfähigkeit angesichts des Warenüberflusses und Medienrummels? Man kann gar nicht glauben, dass diese fantasievolle Geschichte mit vielen schrägen Figuren, sarkastischem Humor und witzigen Wortspielereien aus der Feder eines Ingenieurs stammt, der sich sonst mit Solarenergie beschäftigt. Alain Monnier ist eine unterhaltsame Geschichte über eine Mittdreißigerin gelungen, deren kühles Gemüt sich mit zunehmendem Besitz von Kühlschränken allmählich erwärmt und die unerwartet zu ihren wahren Gefühlen findet. 
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Das französische Venedig

Unsere Sommerurlaube haben wir in letzter Zeit meistens in Spanien oder auf griechischen Inseln verbracht. Es wurde also höchste Zeit, ein Reiseziel anzusteuern, das wir stark vernachlässigt haben: Südfrankreich. Zum Glück fiel unsere Wahl auf Sète, eine der schönsten Städte im Languedoc-Roussillon. Es ist die ideale ‚Home Base‘, um von dort aus mit dem Auto am kilometerlangen Strand entlang oder durch hügelige Weinberge und Winzerdörfer zu kurven und Ausflüge zu unternehmen: zum Beispiel nach Agde, Marseillan, Pézenas oder Béziers. Zu den heimischen Spezialitäten zählen Muscheln und Austern. So ganz verstehe ich den Hype allerdings nicht. Frisches Sashimi, das auf der Zunge zergeht, ist für mich ein größeres Geschmackerlebnis.  
Highlight ist natürlich die Studentenstadt Montpellier, die vor Leben und Energie nur so sprüht. Ob historisch Interessierte, Architektur- und Kunstbegeisterte oder Nachtschwärmer – jeder kommt auf seine Kosten. Der Besuch des Campus weckte nostalgische Gefühle in mir, auch wenn sich vieles seit meinem Studium dort verändert hat. 
Unser Apartment in Sète war zwar mit allerlei Nippes ein wenig überladen, aber insgesamt gut ausgestattet und hatte einen großen Balkon mit herrlichem Blick auf den Kanal. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln hatten wir weniger Glück. Die Busse fahren nur bis halb neun, so dass wir am ersten Abend ein Taxi nehmen mussten, in einem Zug nach Montpellier saßen wir wegen defekter Türen fast eine Stunde fest und eine Tram fiel komplett aus und zwang uns, drei Haltestellen zu Fuß zu gehen. Unsere Entscheidung, ein Auto für die gesamte Zeit zu mieten, war schnell gefallen.
Als weiterer Begleiter hat uns der DuMont direkt Reiseführer Languedoc-Roussillon sehr gute Dienste geleistet. Meine persönlichen Top-Tipps habe ich für Euch in einem Flyer zusammengefasst, den Ihr hier herunterladen könnt. 
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Tückische Strömungen

In dem Roman „Porträt einer Ehe“ von Robin Black geht es um einen Schriftsteller und eine Malerin, die in ein Bauernhaus in der Nähe von Philadelphia ziehen, um ein abgeschiedenes Leben zu führen und sich ganz der Kunst zu widmen. Das klingt erst einmal so, als ob sich das Paar einen langgehegten Traum erfüllt hätte. Eheliches Glück und Erfüllung wird man bei Augusta, genannt Gus, und Owen jedoch vergeblich suchen. Zu groß ist die Anzahl der Tabuthemen, die sich im Laufe ihrer Beziehung angestaut haben, darunter Gus’ Untreue, die verziehen, jedoch nicht vergessen ist, und Owens länger andauernde kreative Blockade. 
Als im leerstehenden Nachbarhaus die geschiedene Britin Alison einzieht, die ebenfalls malt, sucht Gus immer häufiger ihre Gesellschaft, um sich mit ihr auszutauschen und anzufreunden. Erst genießt Gus diese Freundschaft frei von Vergangenheit, doch sehr bald merkt sie, dass auch hier kein wahrer Neuanfang möglich ist. Je mehr Gefühle und Geheimnisse sie sich gegenseitig anvertrauen, desto mehr schwindet die anfängliche Unbeschwertheit in ihren Gesprächen und Unternehmungen. Es ist nicht so, dass der Neuankömmling ein Gleichgewicht zerstört, sondern vielmehr eine bereits existente Schieflage nur noch verschärft. Als dann noch Alisons Tochter Nora auf der Bildfläche erscheint, ist das Fiasko perfekt. 
Über der ganzen Geschichte lastet eine tiefe Traurigkeit. Es geht um Bedauern, Reue, Misstrauen und Kontrollverlust. Verwunderlich ist es nicht, wenn man bedenkt, was die Figuren durchmachen müssen. Gus’ Vater leidet unter rapide fortschreitender Demenz während Alison immer noch von ihrem gewalttätigen Ex-Mann schikaniert wird. Beide mussten die übelste Verwandlung eines geliebten Menschen mitansehen. Trotz der Tragik habe ich jede Zeile dieses Buches genossen, weil mich die Geschichte im Innersten berührt hat. Die tückischen Strömungen der Ehe werden ebenso mitreißend erzählt wie der tägliche Kampf im kreativen Schaffensprozess. Wunderschön beschrieben ist auch, wie Gus ihre Umwelt mit den Augen einer Malerin wahrnimmt und ihre zurückliegende Affäre wie eine gemalte Landschaft in ihrer Erinnerung abgespeichert hat. Robin Black lotet mit psychologischem Feingefühl kleinste Gefühlsnuancen, Zwischentöne und das Ungesagte aus und bezaubert durch ihren elegant lyrischen Stil. 
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Das Spiel des Lebens

Wir stoßen hin und wieder auf Dinge, die bestimmte Erinnerungen in uns wecken: ein Familienfoto, ein Urlaubsandenken, ein Duft oder eine Melodie. Ganz ungewöhnlich ist jedoch die Idee in dem Roman „Sonne, Mond und Sterne“ von Mario Alberto Zambrano. Die elfjährige Hauptfigur Luz Maria Castillo hat nach einem traumatischen Erlebnis aufgehört zu sprechen und lebt in einem Heim. Ihre Tante Tencha ermutigt sie, sich von den Spielkarten aus der mexikanischen Lotería – vergleichbar mit Bingo – inspirieren zu lassen und ihre Gedanken zu jeder einzelnen Spielkarte aufzuschreiben. So entsteht ein Kaleidoskop aus 53 Momentaufnahmen, die uns das Schicksal einer mexikanischen Migrantenfamilie in den USA näher bringen. Der Autor selbst ist Amerikaner mit mexikanischen Wurzeln und in Houston aufgewachsen. In einem Interview sagt er, dass er in seiner Jugend oft verwirrt war, ob er "mexikanisch" oder "weiß" war. 
Nach und nach lernen wir Luz’ Familie kennen, erleben die Auseinandersetzungen mit dem gewalttätigen Vater und die Sticheleien zwischen den ungleichen Schwestern mit. Es gibt auch schöne Erinnerungen an Freunde und Feste, doch immer wieder droht die latente Gefahr von Gewalt. Es ist bemerkenswert, wie gut sich der Autor in die kindliche Seele hineinversetzen kann, zum Beispiel wenn Luz der Flasche San Pedro die Schuld für den Untergang der Familie gibt. Luz verwendet viele spanische Wörter und Ausrufe, die am Ende der Geschichte übersetzt werden und ihren Einträgen einen temperamentvollen und authentischen Touch verleihen.
Ein Spannungsbogen fehlt, da es sich um bunt zusammengewürfelte Szenen handelt. Dafür entsteht eine starke emotionale Nähe zu Luz, sofern man bereit ist, sich ganz auf ihre Person und ihre Empfindungen einzulassen. Es finden sich auch kleine Sprachjuwelen wie der Satz, der einen begabten Jungen bei einem Gesangswettbewerb im Fernsehen beschreibt: „Aus seinen Augen leuchtete alles, was seine Eltern ihm beigebracht hatten.“ Besonders gefällt mir die optische Gestaltung dieses ungewöhnlichen Tagebuchs. Die Tragik, die die Geschichte durchzieht, wird durch die bunte Pracht der Spielkarten, die einzeln vor jeder Episode abgedruckt sind, ausgeglichen. Vielleicht lasse ich mich auch einmal von den ansprechenden Motiven zu einer Geschichte inspirieren.
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Moosforscherin auf Entdeckungsreise

In ihrem Buch „The Big Magic“, den ich Euch im letzten Post vorstellte, beschreibt Elisabeth Gilbert, wie sie dazu kam, ein Buch über das Leben einer Botanikerin zu schreiben. Nachdem ich besagtes Werk mit dem Titel „The Signature of All Things“ („Das Wesen der Dinge und der Liebe“) gelesen habe, verstehe ich auch warum. Im 19. Jahrhundert war für Frauen die Botanik eines der wenigen Gebiete, in dem sie sich wissenschaftlich betätigen konnten.
Das Leben der Protagonistin Alma Whittaker als ungewöhnlich und faszinierend zu beschreiben, wäre glatt untertrieben. Ihr Charakter und Lebensweg wurde sehr stark von ihrem Vater geprägt, weshalb die Autorin auch weit ausholt und zunächst den Aufstieg des Briten Henry Whittaker schildert , der Kapitän Cook auf seinen Expeditionen begleitete und zum reichsten und mächtigsten Pflanzenhändler von Philadelphia wurde.
Seine Tochter Alma, die 1800 geboren wird, ähnelt ihm sowohl äußerlich als auch ihrem Wesen nach: Sie ist stark, wissbegierig, hartnäckig und entwickelt eine große Leidenschaft für die Pflanzenwelt. Sie erkundet jeden Winkel des Anwesens White Acre, das eine große Bibliothek, vielzählige Gärten, Gewächshäuser, Ställe und Brunnen umfasst. Statt mit gleichaltrigen Freunden zu spielen, führt sie kluge Gespräche mit Wissenschaftlern und Kaufleuten, die regelmäßig in ihrem Haus verkehren. Mit 16 Jahren schreibt sie die ersten Aufsätze für Botanica Americana. Ihr besonderes Interesse gilt dem Moos, das unspektakulär, primitiv und bescheiden erscheint und dennoch Würde und Intelligenz für sie ausstrahlt. Durch die intensive Erforschung der Moose begreift Alma allmählich die Signatur aller Dinge. Nur das Wesen der Liebe bleibt ihr trotz der Heirat mit einem Seelenverwandten und einer langen Selbstfindungsphase auf Tahiti ein Rätsel. 
Ich schätze unseren Garten, mag schöne Blumensträuße und Waldspaziergänge, doch damit hört mein Interesse für die Botanik schon auf. Trotzdem zog mich die Lebensgeschichte von Alma Whittaker immer mehr in den Bann, was auch der souveränen Erzählerin zu verdanken ist. Elizabeth Gilbert schreibt klar, vielfarbig, zart und zeichnet das Bild einer Frau, die zwischen Wissensdurst und emotionalen Sehnsüchten hin- und hergerissen ist. Dabei nimmt sie uns mit auf eine lehrreiche Entdeckungsreise rund um die Welt, gibt Einblick in das damalige Eroberungsfieber, die Naturforschung und Darwins Evolutionstheorien.
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Schlummernde Schätze

Als ich das Workbook Meet Becky entwickelte, hatte ich vor allem den Wunsch, dass es den Menschen hilft, ihr verborgenes kreatives Potenzial zu entfalten und auszuleben. Per Zufall stieß ich kürzlich auf das Buch „Big Magic“ von Elizabeth Gilbert, die ebenfalls dieser Frage nachgeht. Auch sie ist der Meinung, dass in jedem Menschen Schätze schlummern, und diese zum Vorschein zu bringen bezeichnet sie als „creative living“. 
Sehr ausführlich geht die Autorin auf das Thema Angst ein – das größte Hindernis, um seine individuellen Möglichkeiten auszuschöpfen und etwas zu wagen. Auch die Ausrede, es mangle an guten Ideen, lässt sie nicht gelten. Ihre These, dass unzählige Ideen in unserem Universum bereits vorhanden sind, und nur darauf warten, von einer dafür aufgeschlossenen Person umgesetzt zu werden, gefällt mir. Auch das verbreitete Bild des leidenden, mittellosen Künstlers nimmt sie auseinander und zeigt, dass nicht nur die klassischen künstlerischen Berufe ein kreatives Leben ermöglichen. 
Elizabeth Gilbert, die in Conneticut aufwuchs, erzählt ebenfalls Geschichten und Anekdoten aus ihrem Bekanntenkreis und interessante Hintergründe über ihre Romane – sowohl unveröffentlichte als auch bekannte Bestseller wie „Eat, Pray and Love“ oder „The Signature of All Things“. Letzterer entstand vor allem durch ihre Neugier, die durch ihre Recherchen über die Biologin Alma Whittaker und die Botanik immer weiter angestachelt wurde. Elizabeth Gilbert hat ihre Lebensphilosophie, die ich vollkommen teile, in sehr schöne Worte und Weisheiten verpackt. Es ist eine sympathisch und lebensnah geschriebene Liebeserklärung an die Macht der Inspiration und Kreativität.
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Die Sakurai-Brüder

Ich hätte nicht gedacht, dass mir eine TV-Serie gefallen würde, die von einer alleinerziehenden Mutter und ihren drei Söhnen handelt. Das Einzige, was ich mit den Figuren gemein habe, ist der Nachname der Hauptdarstellerin. Die japanische Produktion „Brother Beat“ zeigt in einer tollen Balance aus Comedy und Drama, welche entscheidende Rolle die Familientradition in Japan spielt.
Die drei Brüder, die ihren Vater früh verloren haben, könnten unterschiedlicher nicht sein. Tatsuya arbeitet in einer Werbeagentur, fühlt sich als Ältester verantwortlich für die Familie und versucht stets, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Kein Wunder, dass er sich ständig mit seinem jüngeren Bruder Riku in die Haare kriegt, der das Leben lockerer sieht, sich ausgiebig vergnügt und eher impulsiv handelt. Junpei, der Jüngste, ist feinfühlig, fürsorglich und manchmal sehr naiv, was ihm eine Menge Probleme beschert. Amüsiert habe ich mich vor allem über die Mutter, die als Teilzeitkraft in einem Supermarkt arbeitet, die lästigen Haushaltspflichten gern ihren drei Söhnen überlasst und kein Blatt vor den Mund nimmt.
Der Charakter jeder einzelnen Figur ist konsequent, aber auch liebevoll ausgearbeitet, dass die Familie und ihr turbulenter Alltag sehr authentisch rüberkommen. Auch wenn sich die Brüder ständig fetzen, halten sie in ihren Krisen – und davon gibt’s nicht wenige – zusammen, ja sie lernen sogar voneinander. Der Titel ‚Brother Beat’ trifft’s genau, denn trotz gelegentlicher Dissonanzen schlagen ihre Herzen im gleichen Beat. 
Neben dem Zusammenhalt geht es auch um den Wunsch der Väter, die Familientradition weiterzuführen. Rührend fand ich, mit welcher bedeutungsschwangeren Geste ein Konditor, der mich mit seinen konservativen und strengen Ansichten an meinen Vater erinnerte, schließlich doch in die Heirat seiner Tochter einwilligt, auch wenn er sich ihre Zukunft ganz anders vorgestellt hatte. Die Serie zeigt den typischen Traum der jungen Generation, die das Elternhaus auf dem Land verlässt und nach Tokio zieht, um sich beruflich und persönlich zu verwirklichen.
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Ein Vater verschwindet

Einen passenderen Einstieg hätte Jaap Robben für seinen Roman „Birk“ kaum wählen können, um auf dramatische Weise zu zeigen, wie eine heile Welt ganz plötzlich aus den Fugen gerät. Es ist ein scheinbar ganz gewöhnlicher Tag im Leben von Mikael, der am Nachmittag mit seinem Vater am Strand war und gerade nach Hause gekommen ist. Die Mutter serviert das Abendessen und stellt fest, dass der Vater mal wieder auf sich warten lässt, was offenbar häufiger vorkommt. Für den Sohn stellt sich die Situation völlig anders da. Er ist allein zurückgekehrt und das aus einem bestimmten Grund, den wir erst später erfahren. Vergeblich warten die Mutter und der Leser auf eine Erklärung für das Fehlen des Vaters. „Papa ist weggeschwommen“, ist das Einzige, was der verstörte und von Schuldgefühlen geplagte Sohn von sich gibt. 
Was ist tatsächlich passiert, als Mikael mit seinem Vater Birk an den Strand zum Baden ging? Diese Frage zieht sich zunächst wie ein roter Faden durch die Geschichte, rückt aber zunehmend in den Hintergrund. Man begreift allmählich, dass es dem niederländischen Autor nicht darum geht, eine Familientragödie und ihre Ursachen aufzudecken, sondern umgekehrt die erschreckenden Folgen zu schildern. Anfangs verleugnet die Mutter den Tod ihres Mannes, deckt nach wie vor den Tisch für drei und klammert sich an alle Erinnerungsstücke. Doch dann beginnt sie auf subtile Weise, Veränderungen vorzunehmen, sowohl in der Wohnung als auch in den Rolleneinteilungen. Wie weit die Mutter geht, um den Verlust ihres Mannes zu kompensieren, ist ziemlich schwerer Tobak, mit dem uns der Autor zwar wohldosiert konfrontiert, seine Wirkung aber keineswegs verfehlt.
Die Geschichte lebt vor allem durch den starken Kontrast zwischen harmlosen Alltagsbeschreibungen und psychologischer Analyse und der starken Erzählkraft Robbens. Während er das Leben auf der verlassenen Insel vor der norwegischen Küste und die Atmosphäre am Hafen beschreibt, wo die Fischer ihrer Arbeit nachgehen und gelegentlich Touristen in bunten Regenjacken aufkreuzen, isoliert sich der Sohn immer mehr von seiner Umwelt. Seine Mutter hat für ihn eine ganz besondere Aufgabe vorgesehen – welche, das sollte der Leser in dieser spannenden Lektüre selbst herausfinden.
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Im planlosen Universum

Zwei Dinge hat der Schriftsteller Gavin Extence auf jeden Fall richtig gemacht, um die Neugier auf sein Buch „The Universe Versus Alex Woods“ („Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat“) zu wecken: die Wahl des Titels und die Eröffnungsszene. Der 17-jährige Alex Woods wird mit 113g Marihuana und mit der Asche eines Toten im Auto an der Grenze vor Dover von der Polizei angehalten. Wie es dazu kam? Das erfahren wir natürlich erst am Ende des Romans.
Ungewöhnlich ist das Leben des jugendlichen Helds aber schon viel früher, als er mit zehn Jahren im Badezimmer von einem Meteoriten getroffen wird und fortan unter Epilepsie leidet. Er wächst in Glastonbury auf, interessiert sich für Astrophysik, Neurologie und wird immer mehr zum Stubenhocker. Dass die alleinerziehende Mutter hellseherische Fähigkeiten hat und mit Tarotkarten ihr Geld verdient, macht ihn erst recht zum Sonderling. Bis dahin liest sich die Geschichte wie ein Jugendroman über einen typischen Außenseiter. Eine interessante Wende tritt ein, als Alex wieder einmal auf dem Schulweg von seinen Mitschülern schikaniert wird und auf der Flucht im Gartenschuppen von Mr. Peterson landet. Zunächst unfreiwillig lernt der Junge den mürrischen und menschenscheuen Kriegsveteranen näher kennen, der gern kifft und Bücher von Kurt Vonnegut liest. 
Es entwickelt sich eine ungewöhnliche Freundschaft zwischen den beiden, die sich viel zu geben haben. Mr. Peterson vermittelt dem Jungen die Liebe zur Literatur und Lebensweisheiten, die den jungen Alex schnell reifen lassen. Als der Ersatzgroßvater später schwer erkrankt, kann sich Alex revanchieren, indem er über sich hinaus wächst und losgelöst von jeglichen Konventionen das tut, was er für das einzig Richtige hält. Der Autor verpackt komplexe philosophische Themen wie das richtige Handeln, den freien Willen eines Menschen, Freundschaft, Vertrauen und Tod in einen sehr locker und unterhaltsam geschriebenen Road Novel mit viel Herz. 
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Der Mann aus der Seine

Der Roman „Das Leben ist ein listiger Kater“ von Marie-Sabine Roger erinnerte mich ein wenig an „The Universe versus Alex Woods“, den ich Euch vor ein paar Tagen vorstellte. Auch diese Geschichte beginnt mit einer mysteriösen Situation, die erst zum Schluss aufgeklärt wird und handelt von einem griesgrämigen Mann, der durch ein einschneidendes Erlebnis lernt, das Leben wieder zu schätzen. Die Begegnung mit einem Studenten entscheidet am Ende darüber, wie er seine verbleibende Lebenszeit verbringen will.
Doch fangen wir von vorne an: Jean-Pierre Fabre, ein 67-jähriger Witwer und Rentner, wurde von einem Studenten aus der Seine gefischt und landet im Krankenhaus. Bis seine Knochenbrüche verheilt sind, muss er mehrere Untersuchungen und Bewegungstherapie über sich ergehen lassen. Das allein wäre für den leidenden Nörgler Grund genug für seine permanent schlechte Laune. Hinzu kommt das miserable Krankenhausessen, nervendes Personal, lästige Besucher und ein Mädchen, das ständig seinen Laptop benutzen will. Auch sein Lebensretter Camille lässt sich blicken und versetzt ihm einen tiefen Schock, als er erzählt, dass er mit Gelegenheitsprostitution sein Studium finanziert.
Jeder, der längere Zeit im Krankenhaus verbringen musste, weiß, wie viel Zeit man auf einmal zum Nachdenken hat. Mir ging es jedenfalls vor zwei Jahren so. Jean-Pierre blickt auf sein Leben zurück und beschließt aus lauter Langeweile, seine Memoiren zu schreiben. Er erinnert sich an seine Jugendträume, die erste Liebe, seine verstorbene Frau Annie und seine außerehelichen Eskapaden. Im Wechsel beschreibt er seine Lebensgeschichte und den Klinikalltag und das mit so viel Sarkasmus, schrulligem Humor und Selbstironie, dass ich ständig schmunzeln musste.
Die verschiedenen Bekanntschaften, auf die der Witwer anfangs nur zu gern verzichtet hätte, öffnen ihm nach und nach das Herz und verändern seine Lebenseinstellung. Ähnlich wie in ihrem erfolgreichen Roman „Das Labyrinth der Wörter“ widmet sich Marie-Sabine Roger auch diesmal den Themen Freundschaft, Altern und gesellschaftlichen Problemen und bereitet den Lesern mit ihrem lebensbejahenden Roman höchst vergnügliche Lesestunden. 
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