Archiv 2016-07

Was ziehe ich heute an?
Kürzlich traf ich mich mit meiner Freundin zum Essen, und wir beschlossen, uns von allen Kleidungsstücken zu trennen, in denen wir uns nicht richtig wohlfühlen. Eigentlich doch völlig naheliegend: Wie sollen wir in einen schönen, vergnüglichen oder erfolgreichen Tag starten, wenn uns unser Outfit schon nicht ganz taugt?
Es ist erstaunlich, wie viele Studien schon zum Thema Kleidung und Psychologie geführt wurden, wie man in dem Buch „Mind What You Wear: The Psychology of Fashion“ von Karen Pine lesen kann. Von 2011 bis 2014 unterrichtete die Professorin Modepsychologie an der Istanbul Bilgi Universität. In einem Test forderte sie beispielsweise Studenten auf, ein Superman T-Shirt anzuziehen mit dem Effekt, dass sie ein besseres Selbstbild und größeres Selbstvertrauen hatten als zuvor. Ein anderes Ergebnis konnte ich dagegen nicht nachvollziehen: Zu Jeans greifen offenbar Frauen eher, wenn sie sich schlecht fühlen. Das trifft auf mich nicht unbedingt zu, da ich Jeans in jeder Tagesform gern trage.
Drückt unsere Kleidung unsere wahre Persönlichkeit aus? Inwiefern hat sie Einfluss darauf, was wir an dem Tag erleben? Wieweit hebt die Kleidung unsere Stimmung oder beeinflusst unser Denken? Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigt sich die Modepsychologin, die auch das Programm „Wear Something Different“ ins Leben gerufen hat, mit dem Ziel, frischen Wind in seine Garderobe zu bringen und das Leben aus neuen Perspektiven zu betrachten. Mich interessierte vor allem der Aspekt, welche Rolle Farben, Materialien und Muster bei unserer Kleiderwahl spielen. Karen Pines Überlegungen und Forschungsergebnisse werden sicher auch bei den zahlreichen Modebloggern auf Interesse stoßen. Mittlerweile gibt es so viele verschiedene Formate wie zum Beispiel „Très Click – fashion just got fun“ – ein Magazin, das Mode, Beauty und Popkultur verbindet.
„Kleider machen Leute“ heißt es ja bekanntlich, und das bezieht sich nicht nur auf den Eindruck, den man auf andere macht, sondern auch auf sein eigenes Lebensgefühl. Könnte gut sein, dass ich mich an Karen Pines Empfehlungen erinnern werde, wenn ich morgens wieder vor dem Kleiderschrank stehe und mich frage „Was ziehe ich heute an?“

Kunst der langen Weile
„Wie die Zeit vergeht“ ist so ein Spruch, der einem schnell auf der Zunge liegt, wenn man nach langer Zeit seiner Freunde wieder trifft oder feststellt, dass das Jahr schon wieder vorbei ist. Aber warum eigentlich? Die Zeit vergeht doch immer im gleichen Tempo. Winfried Hille hat für diese und ähnliche Fragen Antworten, die man in seinem aktuellen Buch „Slow – Die Entscheidung für ein entschleunigtes Leben“ nachlesen kann. Die alten Griechen, so erfahren wir, hatten genau aus dem Grund zwei Begriffe für Zeit. ‚Chronos‘ stand für die äußere, physikalische Zeit, während ‚Kairos‘ die innere, von eigenem Erleben geprägte Zeit beschrieb. Der Autor zeigt uns, wie wir Letzteres, also Kairos wieder neu für uns entdecken und uns auf das Wesentliche zurückbesinnen können.
Er untersucht das Phänomen Zeit und Zeitgefühl aus verschiedenen Blickwinkeln, in dem er Schriftsteller und Zeitforscher, Ärzte und Philosophen zu Wort kommen lässt. Sehr gut gefiel mir, dass der Autor jedes Kapitel mit einer Reihe von Fragen abschließt, die dazu anregen, einen Bezug zum eigenen Alltag herzustellen und unsere eigenen Gewohnheiten zu prüfen.
Wie oft ertappe ich mich tatsächlich dabei, dass ich besinnungslos „To-Do-Listen“ abarbeite und dabei Genuss und Lebensfreude auf der Strecke bleiben. Zielorientiert und effizient zu arbeiten steckt so tief in mir, dass ich vermutlich andere neue Chancen, die sich auftun, schlichtweg übersehe. Winfried Hille führt dies darauf zurück, dass wir in der heutigen Gesellschaft ständig auf ökonomische Effizienz und Selbstoptimierung getrimmt sind. Statt Eile und Multitasking empfiehlt er uns, mehr Müßiggang und Erlebnistiefe zuzulassen. Nichts tun kann nämlich entgegen unserem Verständnis durchaus produktiv sein, weil es den Geisteszustand schärft.
Winfried Hille, der in Freiburg lebt, war mir bisher als Herausgeber und Chefredakteur der Zeitschrift "bewusster leben" bekannt. Sein ganzheitliches Konzept des Slow Living, das verschiedene Bereiche wie Familie, Beruf, Ernährung und Reisen umfasst, überzeugt auch deshalb, weil er den Leser mit Bedacht und in ruhigem Ton an das Thema heranführt und ihn Stück für Stück dazu ermutigt, öfters innezuhalten und der Laune des Augenblicks zu folgen. Damit scheint er den Nerv der Zeit zu treffen: Erst vor einigen Tagen las ich, dass immer mehr Slow Reading Clubs entstehen, die sich der konzentrierten Buchlektüre widmen.

Klassik trifft Comic
Wofür können sich Japaner am meisten begeistern? Genau, für klassische Musik und Anime. Warum sonst gibt es so viele Verfilmungen von Comics, die von Komponisten, Dirigenten oder Pianisten handeln? Bestes Beispiel dafür ist die erfolgreiche japanische Produktion „Nodame Cantabile“. Sie basiert auf einer preisgekrönten Manga-Serie der japanischen Zeichnerin Tomoko Ninomiya, die von 2001 bis 2009 in einer Manga-Zeitschrift und 23 Sammelbänden veröffentlicht wurde. Aus dieser Idee entstand sowohl eine Serie mit zwei Staffeln als auch ein zweiteiliger Spielfilm.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht der Musterstudent Shinichi Chiaki, der als Kind mit seinen Eltern Europa bereiste und die klassische Musik kennen und lieben lernte. Geprägt hat ihn vor allem die Begegnung mit dem Dirigenten Sebastiano Viera. Nun studiert er an der Musikakademie Momogaoka in Tokio Klavier, träumt aber davon, Dirigent und Komponist zu werden.
Durch Zufall lernt er Megumi Noda mit dem Spitznamen Nodame kennen, die nicht nur seine Kommilitonin, sondern auch Nachbarin ist. Ihr einzigartiges Klavierspiel beeindruckt ihn, doch alles andere löst nur Entsetzen aus: sie ist ein Messie, chaotisch und jagt ihm auch noch hinterher. Ihr verdankt er allerdings die Chance, ein Studentenorchester zu leiten und zu lernen, die musikalischen Fähigkeiten jedes Einzelnen zu schätzen. In der zweiten Staffel ziehen sie gemeinsam nach Paris, wo Nodame ihr Studium an der Conservatoire de Musique aufnimmt, während Chiaki sich als Dirigent des Roux-Marlet-Orchesters bewähren muss.
Witzig ist vor allem die Machart der Serie: Aufkochende Emotionen und hitzige Wortgefechte werden mit visuellen Effekten untermalt, dass man meint, man lese einen Comic. Sehenswert ist die Serie aber vor allem wegen der wunderbaren musikalischen Darbietungen unter anderem von folgenden bekannten Werken:
Adagio cantabile von Beethoven
Sinfonie Nr. 3 F-Dur op. 90 von Brahms
Fantaisie-Impromptu in cis-Moll, op. 66 von Chopin
L’Isle Joyeuse von Claude Debussy
Danse russe aus Stravinskys Petruschka
Miroirs von Maurice Ravel
Klaviersonate Nr. 18 von Mozart

Die Stunde der Erniedrigung
Wie bigott und frauenfeindlich die Wiener Adelsgesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts war, macht Marie von Ebner-Eschenbach in ihrem Roman „Unsühnbar“ deutlich. Opfer der biederen Konventionen wird die Protagonistin Maria von Wolfsberg, die den kunstliebenden Felix Tessin liebt. Die Gräfin fügt sich jedoch dem Wunsch ihres strengen Vaters und heiratet den biederen Graf Dornach. Als es zum Seitensprung kommt und Marie schwanger wird, schiebt sie ihrem Ehemann das Kind unter. Mit der Zeit lernt sie jedoch, Hermann zu lieben und die zahlreichen Vergnügungen der feinen Gesellschaft zu schätzen. Früher wollte sie um jeden Preis gefallen; nun wollen alle der Gräfin gefallen.
„Ein ganzes Dasein der Rechtschaffenheit muss eine Stunde der Verirrung aufwiegen können“, versucht sie sich einzureden, doch ihre Gewissensbisse und Seelenqualen nehmen mit der Zeit zu. Die Stunde der Erniedrigung bleibt für sie unsühnbar. Da helfen auch ihre Zerstreuungsversuche in Form von opulenten Bällen, der Treibjagd oder Wintersport nicht. Auch ihr Streben nach Vervollkommnung durch Bücher und die Kirche misslingt. Maria, die so viel Wert auf Wahrheit legt, kann nur schwer ertragen, dass ihr eigenes Leben auf einer Lüge aufbaut, und stürzt immer weiter in den Abgrund von Schuld und Sühne.
Auch wenn der pathetische Ton nicht ganz in unsere Zeit passt, werden Marias Leidenschaften und Seelenqualen so nuanciert beschrieben, dass man mit ihr fühlt. Der Roman, der erstmals 1890 erschien, illustriert sehr deutlich die Scheinmoral und die patriarchalische, durch ökonomisches Kalkül geprägte Gesellschaft der damaligen Zeit.

Verrat am eigenen Volk
Am Anfang des Romans „Straus Park“ des flämischen Schriftstellers Paul Baeten Gronda weiß man noch nicht so recht, was man von der Hauptfigur halten soll. Amos Grossmann hat von seiner jüdischen Kunsthändlerfamilie ein Vermögen geerbt, lebt direkt am Straus Park in der Upper West Side von Manhattan und hat einen ziemlich hohen Verschleiß an Frauen. Innerhalb weniger Seiten machen wir Bekanntschaft mit seinen Ex-Frauen Farren und Alison und seinem Studienfreund Butch. Amos wirkt verbittert und teilnahmslos, scheint mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart zu leben. Dies ändert sich, als eines Tages die englische Kunsthistorikerin Julie Dane in sein Leben tritt. Sie arbeitet an einem Forschungsprojekt über die Verbreitung europäischer Kunst in den USA und möchte dazu Amos’ Besitz begutachten.
Interessant wurde für mich die Geschichte erst durch den Zeitsprung ins Jahr 1937, als Amos’ Großeltern Markus und Charlotte vom brandenburgischen Ketzin nach Amsterdam fliehen, um sich vor den Nazis zu verstecken. Sie werden von einer reichen und hochgebildeten Unternehmerfamilie, die zu den wichtigsten Förderern der Künste zählen, in die Amsterdamer Gesellschaft eingeführt.
Für Charlotte öffnet sich ein neues aufregendes Leben, während ihr ängstlicher Ehemann um keinen Preis auffallen will. Charlottes Lebensgier schlägt jedoch in eine schockierende und verhängnisvolle Richtung. Dabei beschreibt der Autor sehr einfühlsam, wie das Paar trotz ihres gegensätzlichen Charakters und den dramatischen Verwicklungen zusammenhält. Mit steigendem Tempo führt er zwei Zeitebenen zusammen und entfaltet ein Bild von zwei jüdischen Familienschicksalen, die sich auf tragische Weise kreuzen.

Filmische Novellen
Was für ein Glück, dass die Erzählungen der französischen Schriftstellerin Irène Némirovsky erstmals auf Deutsch erschienen sind. Die elf kompakten Texte in dem Band „Pariser Symphonie“ lesen sich wie literarische Drehbücher – kein Wunder, denn die Autorin hatte ein starkes Faible für das Kino. In ihren melancholischen Novellen geht es um Erinnerungen in doppelter Hinsicht. Zum einen erinnern sie an den Ersten Weltkrieg und wie die Menschen in Frankreich damals lebten und fühlten; zum anderen geht es um die persönlichen Erinnerungen der Protagonisten, ihren Träumen, Ängsten und verpassten Lebenschancen.
In der Erzählung „Umständehalber“ zum Beispiel fragt sich eine Mutter, ob ihrer frisch vermählten jungen Tochter ein ähnliches Schicksal blüht wie ihr selbst. Sie erinnert sich daran, wie sich ihr erster Ehemann René durch den Krieg immer mehr von ihr entfremdete. Sie wurde regelrecht eifersüchtig auf den Krieg, in dem ihr Ehemann grandiose Siege und katastrophale Niederlagen erlebte, den Alltag dagegen als banal und bedeutungslos empfand.
Auch die Enkeltochter in „Die Diebin“ kann nicht vergessen und vergeben, dass ihre Mutter zu Unrecht als Diebin beschuldigt und vom Hof gejagt wurde und entscheidet sich, dasselbe Schicksal auf sich zu nehmen.
Neben der Ehe greift die französische Schriftstellerin oft die Mutter-Tochter-Beziehung als Thema auf und verarbeitet damit offensichtlich ihre eigene unglückliche Kindheit.
Besonders gut gefiel mir die titelgebende Erzählung „Pariser Symphonie“, die von einem Komponisten und einer Malerin handelt. Das Paar erlebt die Stadt Paris in verschiedensten Stimmungen und durch die wechselnden Jahreszeiten, mal verliebt und voller Hoffnung, mal verzweifelt und angewiesen auf die Hilfe reicher Sponsoren. Die Autorin arbeitet wie in einem Film mit Schnitten und Blenden und lässt sprachgewandt ein Kaleidoskop von Bildern und Farben, von Klängen und Tönen entstehen, dass man meint, man sei mitten im Geschehen. Ihre Begeisterung für das Kino zeigt auch der Text „Ein Film“, in dem der Leser die Szenerie wie eine Kamerafahrt erfasst – von der Totalen der Stadt bis zum Fokus auf ein Bordell. Das Buch macht Lust, mehr von Némirovsky zu lesen, die als Star der französischen Literaturszene galt und neben fünfzehn Romanen mehr als fünfzig Novellen verfasst hat.

Himmlische Lektüre
Nachdem man den neuesten Roman von Ewald Arenz gelesen hat, stellt man sich unwillkürlich die Frage, ob und wie viele Dinge sich wohl in unserem Universum abspielen, die wir gar nicht mitbekommen. Und zwar richtig abstruse und unglaubliche Dinge wie sie in der Geschichte „Herr Müller, die verrückte Katze und Gott“ geschehen.
Auslöser der Handlung ist der tödliche Sturz des Familienvaters Kurt Müller aus dem Fenster seiner Wohnung. Während Tochter Helen und Ehefrau um den Verlust trauern, sorgt sich der Erzengel Jehudi um einen Verlust ganz anderer Art, nämlich den der Seele von Kurt Müller, denn dies könnte den Beginn der Apokalypse auslösen. Der Verstorbene wird derweil in Südfrankreich als Katze wiedergeboren. Es beginnt ein aberwitziges Abenteuer, bei dem der Leser die Welt aus ganz ungewöhnlichen Perspektiven erleben kann – aus der Sicht einer Katze, die sich auf die Reise von Collioure über Paris nach Nürnberg begibt, aus der Sicht eines fliegenden Erzengels mit Rücklichtern oder aus der Sicht eines Dämonen, der so gelangweilt ist, dass er zum Vergnügen Kaiserpinguine fliegen lässt. Im unsichtbaren vierzehnten Stockwerk des SPIEGEL-Hochhauses werden schließlich alle Kräfte mobilisiert, um den Weltuntergang zu verhindern.
Am Anfang fällt es etwas schwer, sich in den Roman einzufinden, zumal die Figuren nicht viel Identifikationspotenzial bieten. Doch dann will man einfach nur noch wissen, wie es mit dem verrückten Suchtrupp bestehend aus Erzengeln, Dämonen, islamistischen Selbstmordattentätern und Schülerinnen weitergeht und ob die Mission glückt. Amüsant ist, dass auch im Himmel so manche Pannen passieren wie zum Beispiel dem Erzengel Michael, der mit dem Flammenschwert versehentlich den Teppich im metaphysischen Himmel angezündet hat. Der Roman sprüht vor verrückten Ideen und Slapstick-Einlagen und animiert den Leser, sich den Themen Gott, Glaube, Fanatismus, Sühne und Reinkarnation einmal auf ganz andere Weise zu nähern.
Spaziergang durch den Goethe-Park
Wie führt man ein glückliches und erfülltes Leben? An Ratgebern zu dem Thema mangelt es sicher nicht. Man könnte sich aber auch mit Werken von Johann Wolfgang von Goethe beschäftigen, wie uns Stefan Bollmann in seinem aktuellen Buch vermittelt. Er unternimmt mit uns acht Spaziergänge durch den Goethe-Park und erklärt, „Warum ein Leben ohne Goethe sinnlos ist“, so der Buchtitel.
Für Goethe, so erfahren wir, bestand der Sinn des menschlichen Lebens darin, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und es nach seinen eigenen Vorstellungen zu gestalten. In seiner Heimat Frankfurt und den bürgerlichen Verhältnissen, in denen er aufwuchs, blieb ihm dieser Wunsch verwehrt. Glücklicherweise entdeckte er, dass er durch das Schreiben sein unglückliches Leben immer mehr unter Kontrolle bekam. Er wählte bewusst den Schreibprozess und die Literatur zur Lebensbewältigung und ließ dafür seine Romanfiguren wie den jungen Werther leiden und sterben. Die erste Möglichkeit, seinen eigenen Weg zu gehen, bot ihm Karl August, Erbprinz von Sachsen-Weimar-Eisenach, der ihn nach Weimar einlud und ihm dort wichtige politische Aufgaben übertrug. Dies war nur der Anfang und ein Bruchteil von Goethes vielzähligen Beschäftigungen, die danach folgten.
Stefan Bollmann versteht es, die verschiedenen Facetten des Weltliteraten und seine Lebensstationen informativ und spannend vor den Augen des Lesers auszubreiten. Ganz gleich ob wir Goethe auf seinen Reisen nach Rom, Neapel und Sizilien begleiten, wo er das Bohèmeleben zu schätzen lernt, oder ihm beim Schreiben in seinem Arbeitszimmer in Weimar beobachten – es ist, als sei man vor Ort und würde ihn in seiner Rolle als Vagabund, Naturforscher oder Dichter persönlich erleben. Interessant ist auch, wie er seine eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse in Werken wie „Italienische Reise“ und „Wahlverwandtschaften“ verarbeitete. Erstaunlich, dass man sich Goethe fast als Zeitgenossen vorstellen kann, denn seine Weisheiten wie „Tue es einfach“, „Koste den Augenblick aus“ oder „Folge dem Pfad deiner eigenen Kreativität“ sind aktueller denn je.

Entzugserscheinungen
Die Handlung des Romans „Reise nach Orkney“ der britischen Autorin Amy Sackville ist schnell erzählt. Ein Literaturprofessor und seine vierzig Jahre jüngere Studentin sind frisch vermählt und machen Flitterwochen auf einer der kleinsten Inseln in Orkney, einem Archipel nordöstlich von Schottland. Sehr viel mehr passiert rein äußerlich nicht, und doch entwickelt die Geschichte eine Dynamik, weil sich immer mehr Gegensätze auftun.
Am auffälligsten ist der Kontrast zwischen Nähe und Weite. Das Paar verbringt den Urlaub in einer gemütlichen Hütte in einer kleinen Bucht und sie verspüren beide eine starke Intimität. Der Professor schreibt an einem Buch über Hexen und Nixen des 19. Jahrhunderts, doch er ist so liebestrunken und besessen von seiner Frau, dass seine Aufmerksamkeit ausschließlich ihr gilt. Sie dagegen zieht es ständig an den Strand. Ihr wird nicht langweilig, das Meer zu betrachten und ihm wird nicht langweilig, ihr dabei zuzusehen.
So vergeht ein Tag nach dem anderen und es wird immer deutlicher, dass sie mehr als nur der große Altersunterschied trennt. Während er sich hoffnungsfroh einer gemeinsamen Zukunft öffnet, zieht sie sich immer mehr zurück, um ihre nebulöse Vergangenheit zu verarbeiten, von der sie ständig träumt, aber nur wenig erzählt. So wird die Distanz zwischen der entgleitenden Frau und dem besitzergreifenden Mann immer größer. Er lebt ständig mit der Angst, seine Frau könnte regelrecht vom Sand verschluckt oder vom wogenden Meer weggespült werden.
Die Stärke des Romans liegt für mich in der Mischung aus Düsternis und Poesie. Auf unvergleichliche Weise beschreibt die Autorin, wie die junge Frau immer mehr von der Landschaft vereinnahmt, ja eins mit ihr wird und sich aus den Klauen ihres verzweifelten Ehemannes löst. Die Grenzen zwischen Realität, Träumen und Wahnvorstellungen lösen sich auf und lassen viel Spielraum für eigene Interpretationen.

Studiochef und Troubleshooter
Im Flieger nach New York hatte ich die Gelegenheit, einen Film anzusehen, der gerade auf DVD erschienen ist: „Hail, Caesar!“ von den Coen-Brüdern, der den Wettbewerb der 66. Berlinale im Februar eröffnete. Viel logische Handlung darf man in diesem Film nicht erwarten, doch man kann in die wunderbar bunten Studiokulissen der Fünfziger Jahre eintauchen, mitten ins Goldene Zeitalter von Hollywood.
Hauptfigur Eddie Mannix leitet das Filmprojekt „Hail, Caesar!“ – ein im alten Rom angesiedelten monumentalen Sandalenfilm. Kurz vor Drehschluss wird jedoch der Hauptdarsteller von einer Gruppe kommunistischer Drehbuchautoren entführt, die sich „Die Zukunft“ nennt. Dass eine Summe von 100.000 Dollar als Lösegeld gefordert wird, ist nur eines von vielen kleinen und großen Problemen, mit denen sich der Studiochef herumschlagen muss. Er ist Mädchen für alles oder ‚Fixer‘, wie man die Arbeit damals nannte.
So erleben wir einen Käfig voller verrückter Künstler und Diven wie eine launische Wasserballetttänzerin, Cowboyhelden, steppende Matrosen und nervige Klatschreporter. Schauspieler wie George Clooney und Scarlett Johansson sind sich nicht zu schade, sich zum Narren zu machen – im Gegenteil, sie haben sichtlich Spaß an ihren Rollen und der überträgt sich ganz schnell auf das Publikum. Typisch für die Coen-Brüder ist wieder das Thema Kunst versus Kommerz, doch in erster Linie ist der Gute-Laune-Film eine Huldigung der einstigen Magie von Hollywood.