Archiv 2016-05

Talentloser Aufsteiger
Von einem Entwicklungsroman bin ich es gewohnt, dass der Protagonist sich charakterlich verändert und am Ende nicht der Gleiche ist wie am Anfang. Auf den Helden des französischen Literaturklassikers "Bel Ami" von Maupassant trifft das nicht gerade zu. Georges Duroy verfolgt von Anfang an das Ziel, in die oberste Liga der elitären Gesellschaft zu gelangen, räumt alle Hindernisse aus dem Weg und erreicht sein Ziel ohne jegliche Sanktionen.
Solch eine Geschichte könnte sich jederzeit und überall abspielen. Eine Stadt, die Ende des 20. Jahrhunderts die besten Voraussetzungen für ehrgeizige Aufsteiger bot, war Paris. Kürzlich hatte ich durch die – sage und schreibe – vierzehnte Verfilmung von "Bel Ami" aus dem Jahr 2012 das Vergnügen, in die damalige Zeit einzutauchen, in der für viele Emporkömmlinge der schnelle Aufstieg und das große Geld zum Greifen nahe erschien. Duroy wählte die für ihn als Charmeur am erfolgsversprechendste Methode: Er verführte die Ehefrauen der mächtigen Gentlemen. Interessant wird die Geschichte, wenn diese Frauen so unterschiedlich sind wie Madeleine Forestier, Clotilde de Marille und Madame Rousset, gespielt von Uma Thurman, Christina Ricci und Kristin Scott Thomas. Rob Pattinson, der in die Rolle des Schwerenöters schlüpfte, sagte in einem Interview, dass die Schauspielerinnen derart unterschiedlich waren, dass er sich bei jedem Dreh komplett neu orientieren musste.
Auch wenn die Story nicht sehr einfallsreich umgesetzt wurde, verfolgt man mit einer gewissen Faszination, wie ein mittelloser Mann ohne Talent allein durch seine Verführungskünste an die Spitze der Gesellschaft gelangt. Ein Augenschmaus sind die opulenten Kostüme und das authentische Setting wie die Arbeitsatmosphäre bei der Zeitung "La Vie Française", der Blumenstand auf einem Pariser Boulevard oder das Treiben in einer Kneipe, wo man meint, in jedem Augenblick könnte Toulouse-Lautrec um die Ecke auftauchen. Im Vergleich zu der Romanfigur, die von Lebensgier und Wunsch nach Anerkennung getrieben wird, bleibt die Filmfigur bis zum Schluss recht farblos.

"Die elende Wahrheit"
Die erste und längste Erzählung des Buchs „Die Komödie von Charleroi“ von Pierre Drieu la Rochelle beginnt mit einer Reise. Eine Pariser Witwe, die 1914 ihren Sohn in den Krieg geschickt hat, um einen Helden aus ihm zu machen, ist auf dem Weg ins belgische Charleroi. Auf dem Schlachtfeld, wo ihr Sohn fiel, will sie sich fünf Jahre später vor den Honoratioren der Stadt als Grande Dame inszenieren. Schon auf den ersten Seiten beschwört der Autor ein sehr präzises Bild der Madame und ihrer gesellschaftlichen Geltungssucht herauf und spart dabei nicht an sarkastischen Seitenhieben. Auch der Satz „Das Ehepaar erbebte in seinem Fett“ gibt einen guten Vorgeschmack auf die typisch drastischen Charakterisierungen der Figuren.
Alle Erzählungen sind geprägt durch Drieus eigene Erfahrungen als Soldat im Ersten Weltkrieg an Orten wie Charleroi, Verdun und den Dardanellen. Die Protagonisten sind oftmals psychisch labil, haben jegliche Orientierung verloren und verhalten sich ambivalent – genauso wie der Autor, seine politischen Ansichten und Werke wahrgenommen wurden. An mehreren Stellen wird dies deutlich: Einerseits scheint für ihn zum Beispiel die Position des Anführers erstrebenswert zu sein, dann wieder stellt er Überlegungen an, zu desertieren. Er richtet sein Augenmerk weniger auf die Schlachten und Kriegsstrategien, sondern vielmehr auf die Soldaten als Individuen und ihre Ängste und Kämpfe an der Front, wenn sie von Angesicht zu Angesicht dem Feind gegenüberstehen.
Am besten gefiel mir die Geschichte „Der Hund der heiligen Schrift“, in der der Erzähler in Paris die Premiere eines Kinofilms über Verdun besucht. Er übt harsche Kritik an der eitlen Gesellschaft und macht deutlich, dass auch das gelungenste Kunstwerk eine Enttäuschung für jeden ist, der die „elende Wahrheit“ selbst erlebt hat. Das Buch bietet keine vergnüglichen Lesestunden, gibt dafür aber interessante Einblicke in die Gedankenwelt eines ehemaligen Soldaten und umstrittenen intellektuellen Bourgeois, der sich sehr intensiv mit den Kriegsereignissen und -auswirkungen auseinandergesetzt hat.

Hommage an Rückert
Anlässlich des 150. Todestages von Friedrich Rückert finden dieses Jahr in Schweinfurt und Coburg zahlreiche Ausstellungen statt. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich bisher nur sehr wenig über den Dichter und Übersetzer wusste, geschweige denn etwas von ihm gelesen habe. Nun konnte ich meine Wissenslücken füllen – dank Johannes Wilkers und seinem Frankenkrimi „Der Fall Rückert“, der im März erschienen ist.
Ein Kriminalfall, in dem es um Literatur geht, weckte gleich mein Interesse. So wird man schon zu Beginn in den ersten Schauplatz und ungewöhnlichen Tatort eingeführt: Erlangens alte Universitätsbibliothek, wo eine Angestellte ermordet aufgefunden und Rückerts Originalhandschriften gestohlen wurden. Hauptfigur Kommissar Mütze ist in heller Freude, dass er endlich in seinem ersten Mordfall ermitteln kann, seitdem er von Dortmund nach Erlangen versetzt wurde. Auch sein Lebensgefährte Karl-Dieter begeistert sich immer mehr für den Fall, oder besser gesagt für Rückert und seine Werke.
Man kann sich herrlich über das ungleiche Paar und ihre täglichen Dispute amüsieren. Es werden zwar die typischen Klischees über Homosexuelle bedient, doch verwoben mit vielen interessanten Fakten über Rückert und seine Wirkungsstätten ergibt sich eine angenehme Balance zwischen Anspruch und Unterhaltung. Wenn man den Kommissar bei seinen Autofahrten oder Karl-Dieter bei seinen Einkäufen begleitet, sieht man die lebhafte Studentenstadt, das Treiben auf dem Marktplatz, die Verkehrsführung und die ausgefallenen Straßennamen regelrecht vor sich. Manchmal kam ich mir fast vor wie bei einer Stadtführung von einem Insider.
Auch das Bild Friedrich Rückerts, der sich mit – sage und schreibe – 44 Sprachen wissenschaftlich beschäftigt hat und einer der Begründer der deutschen Orientalistik ist, wird immer schärfer. Die Kostproben seiner Gedichte haben mich neugierig gemacht auf seine persischen und arabischen Übersetzungen. So macht Weiterbildung Spaß!

Selbstfindung auf Umwegen
Robert Foss, Hauptfigur des Romans „Wer ist Mister Satoshi?“ von Jonathan Lee, führt ein Einsiedlerdasein. Er ist tablettensüchtig und leidet unter Depressionen. Als seine demenzkranke Mutter im Altersheim verstirbt, wirft ihn dies gleich doppelt aus der Bahn. Es ist nicht nur sein zweiter Verlust, nachdem seine Frau bei einem tragischen Unfall ums Leben kam; seine Mutter hinterlässt ihm auch noch geheimnisvolle Briefe an einen Mann in Tokio, von dem er bisher noch nie gehört hat.
Wer ist dieser Mister Satoshi und warum wünscht sich seine Mutter, dass er ihre Briefe bekommt? Wie gut kannte er überhaupt seine Mutter? Jonathan Lee beschreibt sehr eindringlich, wie das Päckchen mit der fehlerhaften Anschrift eine immer größere Macht auf ihn ausübt. Ihm ist klar, dass er sich davor fürchtet, die Wahrheit zu erfahren, eine Grenze zu überschreiten, so als würde er die Büchse der Pandora öffnen. Und doch entschließt er sich dazu, den letzten Wunsch seiner Mutter zu erfüllen.
Die Suche des Unbekannten bildet den roten Faden des Romans und steigert die Neugier auf diese mysteriöse Figur, die offenbar eine wichtige Rolle im Leben von Foss’ Mutter gespielt hat. Eigentlich geht es jedoch mehr um Foss’ persönliche Entwicklung und Selbstfindung dabei. Er wird gezwungen, gleich mehrfach über seinen Schatten zu springen: Er muss sein Schneckenhaus verlassen, sich ausgerechnet in das Getümmel von Tokio stürzen, mit seinen Panikattacken fertigwerden und die Hilfe fremder Menschen annehmen – genauer gesagt einer jungen schrägen Japanerin namens Chiyoko.
Seine Ankunft am Narita Flughafen, die Fahrt mit dem Taxi durch das Lichtermeer von Shibuya und die ersten Erfahrungen mit einem typisch japanischen High-Tech-Klo im Hotel konnte ich gut nachempfinden, da ich es selbst schon oft genug erlebt habe. Dagegen war der zweite Schauplatz, Sapporo im hohen Norden, Neuland für mich.
Interessant wird die Geschichte vor allem dadurch, dass der Autor nach und nach Foss’ vergangenes Leben als erfolgreicher Fotograf und glücklicher Ehemann ans Licht bringt und ein immer schärferes Bild des Protagonisten zeichnet. Sehr schön beschrieben ist, wie Foss seine Begleiterin Chiyoko, die er aus den Augen verloren hat, durch den Sucher seiner Kamera absucht und seine Lust auf das Fotografieren neu geweckt wird. Am meisten hervorzuheben ist jedoch Lees außergewöhnlicher Schreibstil, der tief in die Seele der Charaktere blicken lässt. Der Wechsel zwischen einem humorvollen und melancholischen Ton und die frischen und originellen Formulierungen sorgen für ein großes Lesevergnügen.

Ungenutztes Potenzial
Die Eigenschaft „hochsensibel“ hätte ich bis vor einiger Zeit noch mit „emotional überempfindlich“ gleichgesetzt. Erst durch den Film „Die anonymen Romantiker“, den ich Euch im Januar vorstellte, erfuhr ich, was sich tatsächlich hinter dem Begriff verbirgt. Hochsensible empfinden äußere Reize wie Geräusche, Gerüche, Geschmäcker, Licht, Farben und Berührungen intensiver und reagieren stärker darauf. Umso interessanter war es für mich, das Thema zu vertiefen und zwar anhand des Buchs „Hochsensibel“ von Eliane Reichardt. Sie lebt in Nottuln bei Münster und gibt auch Seminare zu dem Thema.
Zu Beginn schildert die Autorin, wie sie das Persönlichkeitsmerkmal bei sich selbst feststellte, wie sie damit umging und Nutzen daraus zog. Ihr Rückblick auf den Wandel unseres Alltags seit Mitte des 20. Jahrhunderts und die explodierende Reizüberflutung, macht deutlich, warum das Thema auch im deutschsprachigen Raum immer mehr Aufmerksamkeit gewinnt. Immerhin 15% der Menschheit sind davon betroffen.
Laut Eliane Reichardt ist es wichtig, das „Anderssein“ zu erkennen, anzunehmen und als Potenzial zu nutzen. Daher enthält der erste Teil einen umfangreichen Selbsttest, dessen Ergebnis mich überraschte, da sehr viele Eigenschaften auch auf mich zutrafen: Hochsensible sind geborene Sinnsucher, eher Generalisten als Spezialisten, mögen kein Smalltalk, haben einen neugierigen Geist, einen stark ausgeprägten Freiheitsdrang, großes Interesse für spirituelle Themen und ein Bedürfnis nach Sicherheit, Ordnung und Struktur. Nur die individuelle Intensität und Ausprägung dieser und vieler anderer Merkmale kann sehr verschieden sein, was die Autorin durch Grafiken veranschaulicht.
Sie ist der Ansicht, dass Hochsensible keine Therapie benötigen, sondern eine Anleitung zu einer für sie passenden Lebensführung und genau die bietet sie in diesem Buch in leicht umsetzbarer Form. Sie gibt zahlreiche Anregungen, wie man in alltäglichen Situationen, sei es im Supermarkt, in der U-Bahn, in Meetings oder auf Parties, mit Stressquellen umgehen, hilfreiche Tricks anwenden und sich Erleichterung verschaffen kann. Das Sachbuch ist sehr gut aufgebaut und bietet eine gelungene Balance zwischen Begriffserklärungen, wissenschaftlichem Hintergrundwissen, praktischen Anleitungen und persönlichen Erfahrungen.

Symbol für den Frühling
Was steckt hinter der Fassade? Diese Frage scheint Peter Coon, Autor der Kurzgeschichtensammlung „Märzchen im November“, besonders zu interessieren. In den 14 Erzählungen, die bisher teilweise in Anthologien und im November letzten Jahres erstmals in einem Sammelband erschienen sind, geht er Dingen genau auf den Grund. Das kann eine ganz alltägliche Situation sein wie in „Gute Unterhaltung“, in der ein Ehepaar viel Mühe hat, ihren gemeinsamen Abend interessant zu gestalten, oder eine Katastrophe wie ein tödlicher Unfall auf der Ramstein Air Base.
Überrascht hat mich, wie es dem Autor gelingt, den einzelnen Charakteren Tiefe zu verleihen, auch wenn manche Geschichten nur wenige Seiten lang sind. Er beobachtet die Menschen genau, ergründet, was ihn ausmacht und was sich hinter dem Schein verbirgt. Welche Wirkung können eine tiefe Stimme oder eine Haarfarbe auf andere haben, welche Gefühle und Stimmungen lösen sie aus? Eine Eigenschaft wie Schönheit kann durchaus hinderlich sein, wenn sie vom Wesentlichen ablenkt. Interessant ist auch, wie Peter Coon die Figuren in ihrem Kontext beschreibt („Marie war wie das Gebirge, das sie umgab“).
Manche Themen haben mich weniger angesprochen, andere dafür umso mehr wie die Geschichte von Mira, die der Meinung ist, dass Worte überschätzt werden, oder von einem Mann, der sich durch die Musik in ferne Sphären katapultieren lässt. Am meisten hat mich die titelgebende Erzählung „Märzchen im November“ berührt. Ein Märzchen, so erfuhr ich, besteht aus einer rot-weißen Schnur mit einem Anhänger und symbolisiert den Frühling. In Ländern wie Moldawien, Bulgarien oder Griechenland schenkt man es Frauen und Kindern, die es an ihrer Kleidung so lange tragen, bis sie einen blühenden Baum sehen. Das Wechselspiel in der Geschichte zwischen aktuellem Geschehen und Vergangenheit, zwischen dem oberflächlichen Vergnügen eines Mannes und den verstörenden Erinnerungen seiner Geliebten an ihre Heimat Moldawien, die durch das vermeintlich harmlose Mitbringsel an die Oberfläche kommen, zeigt das Talent des Autors in komprimierter Form. Das Buch ist eine Empfehlung für alle, die wie ich ein Faible für tiefgründige und überraschende Kurzgeschichten haben.

Schöner als jede menschliche Erfindung
„Wunder der Natur“ präsentiert in einem Industriedenkmal? Das passt auf den ersten Blick nicht so recht zusammen. Doch ein Besuch der aktuellen Ausstellung im Gasometer Oberhausen hat mich vom Gegenteil überzeugt. Der Rundgang beginnt im Erdgeschoss, wo großformatige Fotografien und Filmausschnitte aus der Tierwelt gezeigt werden. Jede Aufnahme erzählt eine eigene Geschichte, sei es der Balztanz der Fächertaube Queen Victoria mit ihrem extravaganten Federkamm, die Sprungkraft von Rotaugenlaubfröschen oder Strategien von Antilopen im Kampf ums Überleben. Von Tieraufnahmen zu sprechen, wird den Bildern kaum gerecht. Es sind vielmehr einzigartige Kunstwerke und man fragt sich ständig, wie es den Naturfotografen und Filmemachern aus aller Welt gelungen ist, diesen magischen Moment mit solcher Präzision festzuhalten. Wann hat man schon die Gelegenheit, das Facettenauge einer Libelle, das aus 28.000 Einzelaugen besteht, eine schlüpfende Schildkröte oder eine als braunes Blatt getarnte Asiatische Gottesanbeterin auf der Jagd aus nächster Nähe zu betrachten?
Im oberen Stockwerk tauchen wir in die verschiedenen Lebensräume ein, in tropische Regenwälder, Wüsten und die Tiefsee. Dort haben mich vor allem die Korallenriffe Australiens, Mittelamerikas und Indonesiens mit ihrer Farbenpracht begeistert. Manche Seeigel, Krabben und Seepferdchen sehen so schrägt aus, dass man sich kaum vorstellen kann, dass die Geschöpfe echt sind.
Zum Höhepunkt der Ausstellung gelangt man über eine Treppe, die in den riesigen Innenraum des Gasometers führt. Dort kommt eine 20 Meter große Erdkugel zum Vorschein, die im 100 Meter hohen Luftraum schwebt. Bewegte, hoch aufgelöste Satellitenbilder werden aus zwölf Projektoren auf die Erdkugel projiziert und zeigen die Erscheinungen der Erdatmosphäre im Wechsel von Tag und Nacht und dem Wandel der Jahreszeiten. Trotz der langen Schlange vor dem Panoramaaufzug entschieden wir uns für eine Fahrt aufs Dach und rauschten wie Astronauten am Planeten vorbei. Bis zum 30. Dezember könnt Ihr die bizarre Schönheit und Intelligenz unseres Planeten erkunden, die Euch sicher in Staunen und Ehrfurcht versetzen wird.

Wie Frauen ihr Leben meistern
In dem Roman „Muchachas – Tanz in den Tag“ von Katherine Pancole braucht man ein gutes Namensgedächtnis. Es handelt sich um den ersten Teil einer Trilogie, in der wir sehr vielen Frauen begegnen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Hortense Cortés zum Beispiel ist schön, extravagant und kapriziös und möchte mit einer eigenen Modekollektion der Welt ihren Stempel aufdrücken. Sie und ihr Freund und Komponist Gary beflügeln sich gegenseitig zu künstlerischen Höchstleistungen. Verliebt in Gary ist aber auch die Kubanerin Calypso, die sonst nur in ihrem Geigenspiel aufgeht.
Der leichte, beschwingte Ton des Romans ändert sich schlagartig, als zwei weitere Frauenfiguren ins Spiel kommen. Wir verlassen die glamouröse Welt von New York und finden uns auf einem Bauernhof im Burgund wieder. Stella arbeitet dort auf einem Schrottplatz, zieht allein ihren Sohn auf und versucht, ihrer Mutter Léonie zu helfen, die den Gewaltausbrüchen ihres Mannes ausgeliefert ist. Auf einmal geht es nicht mehr um die kreative Selbstverwirklichung und Jagd nach Glücksmomenten, sondern um die blanke Existenzangst, um Misstrauen, Bedrohung und Grausamkeit.
So verschieden die Charaktere und die Schicksale der Frauen sind – eines haben sie gemeinsam: Für die Liebe sind sie bereit, große Opfer zu bringen. Auffällig ist, dass die Männer in diesem Roman eher dazu neigen, in schwierigen Situationen das Weite zu suchen oder sich zurückzuziehen. Die Frauen dagegen gehen aufs Ganze, stellen sich dem ganzen Spektrum der Emotionen, die sehr plastisch beschrieben werden: von der Leidenschaft über Schmerz bis hin zu Scham und Selbsthass. Man sieht, welche Macht Gefühle und Beziehungen auf die Frauen haben, die sonst mit beiden Füßen auf den Boden stehen, stark und selbstständig sind.
Im ersten Teil nahm der Part von Stella für meinen Geschmack zu viel Raum ein und man fragt sich, wann sich denn endlich die Wege der unterschiedlichen Frauen kreuzen werden. Diese Frage wird auch im zweiten Teil „Muchachas – Kopfüber ins Leben“ noch nicht klar beantwortet, doch dafür taucht man tiefer in das Schicksal der Schriftstellerin Joséphine und ihrem Freund Philippe ein. Außerdem verfolgen wir den Fortschritt von Hortenses und Calypsos Karriere. Ich bin gespannt auf die Auflösung im dritten Band, der diesen Monat erschienen ist und von dem ich Euch bald berichten werde.

Lehrling überholt Meister
Manche TV-Serien brauchen eine Weile, bis die Handlung in Fahrt kommt. Bei der japanischen Produktion „Concerto“ wäre ich beinahe nach zwei Folgen ausgestiegen, bin aber zum Glück drangeblieben. Was als eine simple Dreiecksgeschichte beginnt, entwickelt sich zu einem hochspannenden Duell zwischen zwei Architekten.
Im Mittelpunkt steht der junge Mann Kakeru, der davon träumt, eine imposante Kirche in Kamakura zu erbauen. Seit vier Jahren arbeitet er an seinen Entwürfen, sandelt vor sich hin und kann seiner unzufriedenen Freundin Hana keine Zukunftsperspektiven bieten. Sein großes Vorbild ist der berühmte Architekt Kosuke Ebisawa, deren Bauwerke er regelmäßig aufsucht, um sich inspirieren zu lassen.
Die Überraschung ist groß, als just dieser erfolgreiche Künstler durch einen Zufall auf der Bildfläche erscheint und ihr Leben komplett umkrempelt. Kakeru bietet er eine Stelle in seinem Architekturbüro in Tokio an – so weit so gut –, doch die Freundin spannt er ihm aus. Es beginnt eine höchst ungewöhnliche Dreiecksbeziehung, die man kaum in Worte fassen kann, da ihre Entwicklung und Dynamik mindestens so nuancenreich sind wie die Höflichkeitsformeln im Japanischen. Der Lehrling lernt zunächst vom Meister, doch bald fühlt er sich von ihm ausgenutzt, will seine eigenen Träume verwirklichen, statt sein Talent für die Selbstverwirklichung seines Chefs zu opfern. Sie werden zu Rivalen und haben doch den höchsten Respekt voreinander. Hanas Traum ist nur scheinbar in Erfüllung gegangen – sie lebt mit Kosuke in einer Luxuswohnung, hat keine materiellen Sorgen mehr und ist dennoch unglücklich.
Mit jeder Folge kommt eine unerwartete Wendung und eine neue Thematik ins Spiel: der Wunsch nach künstlerischer Selbstverwirklichung, Prinzipientreue, Klüngeleien von mächtigen Unternehmen und der Zwang zum Konformismus. Gemeinsam mit den drei Charakteren erleben wir extreme Höhen und Tiefen ihres Lebens sowie die Bedeutung von wahrer Freundschaft und Liebe.

Kleine Idee – Große Wirkung
Es gibt Bücher, die fallen einem genau zum richtigen Zeitpunkt in die Hände. „Auf ins fette pralle Leben“ von Ina Rudolph war so eines. In letzter Zeit hatte ich überlegt, wie ich meine Routine durchbrechen und etwas mehr Abwechslung in meinen Alltag hineinbringen könnte. Und prompt handelt gleich das erste Kapitel des optisch sehr ansprechenden Buchs von Gewohnheitsumkehrungen. Ina Rudolph, Schauspielerin, Autorin und Coach, lädt den Leser ohne Umschweife in ihr Familienleben in Berlin-Neukölln ein und beschreibt ihr erstes von 12 Experimenten, die sie sich für jeden Monat vorgenommen hat. Sie alle beruhen auf „The Work“ von Byron Katie, deren Methode sie in Seminaren und Einzeltrainings weitervermittelt.
Was die Gewohnheiten betrifft, sprach sie mir aus der Seele. Auch für mich ist es immer eine Gratwanderung zwischen dem Ziel, die täglichen Aufgaben möglichst routiniert und effizient zu erledigen und dem Wunsch, mehr Variationen, Spannung und Überraschung zu erleben. Ihre Ideen, alltägliche Dinge einmal anders zu machen als gewohnt, inspirierten mich gleich dazu, meinen eigenen Tagesablauf zu überdenken.
Auch die folgenden Experimente drehen sich um Themen, die sicher jedem mal mehr mal weniger Kopfzerbrechen bereiten: der Umgang mit sorgenvollen Gedanken, der Wunsch nach klarer Kommunikation oder der Optimierungsdrang. Viele konkrete Beispiele aus ihrem Leben, z.B. dem Partner Unpünktlichkeit vorzuwerfen oder die Absage einer Freundin fehlzuinterpretieren, kamen mir so bekannt vor, dass ich schmunzeln musste.
Immer wieder geht es darum, eigene Glaubenssätze zu hinterfragen und zu erspüren, welcher Gedanke und welche Einstellung sich gut für einen selbst anfühlen. Mit dem Glaubenssatz „Dafür muss ich etwas tun“ traf sie bei mir auf einen wunden Punkt. Erst kürzlich war mir aufgefallen, dass ich manchmal zu ziel- und ergebnisorientiert an Aufgaben herangehe und dabei vor lauter Tunnelblick der Spaß völlig auf der Strecke bleibt. Mir gefällt, dass Ina Rudolphe auch bei diesem Beispiel das Thema sehr differenziert beleuchtet, indem sie sagt, dass sie persönlich weder das eine Extrem – Faulheit und Passivität – noch das anderen Extrem – Kampf und Anstrengung – gutheißen kann. Erstaunlich, wie die Autorin den Leser sanft an die Problematik heranführt und immer die richtigen Worte findet. Es ist ein mit vielen persönlichen Erfahrungen und Alltagsgeschichten gespickter Lebensratgeber, der dem Leser interessante Impulse zu mehr Leichtigkeit und Freude auf den Weg gibt.

Licht am Ende des Tunnels
Normalerweise würde ich zu keinem Buch greifen, in dem ein Schriftsteller seinen Kampf gegen die Depression beschreibt. Bei Matt Haig machte ich eine Ausnahme. Sein Roman „The Humans“ zählt zu den besten Büchern, die ich je gelesen habe. Daher ließ ich mich auf seinen aktuellen Roman „Reasons to stay alive“ („Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben“) ein und damit auf seine ganz persönlichen Erfahrungen mit der Krankheit, die so viele Menschen quält. Betroffene können vermutlich die Schilderungen des Autors sehr gut nachvollziehen. Alle anderen bekommen eine vage Vorstellung von dem Leiden, spätestens dann, wenn eindrücklich beschrieben wird, wie gewaltig der Unterschied zwischen einer Depression und einem niedergeschlagenen Gemütszustand ist.
Matt Haig ging mit 24 Jahren buchstäblich durch die Hölle und wollte sich nicht einmal glücklich fühlen, sondern nur, dass der Schmerz weggeht. Am liebsten hätte er einfach den Bereich aus dem Gehirn entfernt, der den Schmerz verursacht. Er analysiert das Leiden aus vielen Blickwinkeln. Wie erkennt man, dass man unter einer Depression leidet? Wie bekämpft man die typischen Symptome wie Leere, Antriebslosigkeit, Zweifel und Angstzustände? Wie fühlt sich die erste Panikattacke an? Und wie unterscheidet sich die tausendste Panikattacke von der ersten? Angehörigen gibt er viele praktische Tipps, wie man Verständnis für die Krankheit entwickeln und besser mit ihr umgehen kann.
Für einen Außenstehenden ist es schwer zu begreifen, dass die Depression Menschen völlig ohne Grund treffen kann. Auch Menschen, die von ihren Eltern, Geschwistern und Freunden geliebt werden wie der Schriftsteller selbst. Die Liebe seiner Freundin war es schließlich, die Matt Haig rettete und ihm dabei half, ziemlich gute Gründe zu finden, am Leben zu bleiben. Diese hat er zum Schluss des Buchs aufgelistet und macht sicher jedem Mut, Licht am Ende des Tunnels zu sehen.