Archiv 2016-04

Selbsterfahrungen in der Ferne
Habt Ihr das auch schon einmal erlebt? Ihr trinkt im Urlaub einen Wein, der Euch so gut schmeckt, dass Ihr eine Flasche mit nach Hause nehmt. Doch in den eigenen vier Wänden findet Ihr ihn gar nicht mehr so besonders. Liegt es am Essen, am Wetter oder am fehlenden Urlaubsflair? Diese Frage stellt sich auch ein Mann in einer Geschichte von Rafik Schami – mit dem kleinen Unterschied, dass er kein Getränk, sondern eine Frau mit nach Hause genommen hat. In Udine war sie noch die Frau seiner Träume – in München erscheint exakt die gleiche Person in einem völlig anderen Licht. Die Magie, die Verspieltheit, die Gelassenheit – alles futsch.
Um diese und ähnliche Phänomene drehen sich die feinen Kurzgeschichten im ersten Band der Sechs-Sterne-Reihe „Reisen“. Ähnlich wie im zweiten Band „Tiere“, den ich kürzlich vorstellte, sind auch hier wieder sehr interessante Varianten zu einem Thema entstanden – mal im heiteren, traurigen, poesievollen oder auch fantastischen Stil.
Die Neugier, Unternehmungslust und Lebensfreude, die ein Urlaub in uns wecken kann, erleben wir hautnah in einer Erzählung von Franz Hohler, die uns auf eine ganz ungewöhnliche Hochzeitsreise nach Rom mitnimmt. Auch von spannenden Begegnungen, die ja den Reiz einer Reise ausmachen, handeln die Geschichten – zum Beispiel eine, die in Cagliari spielt, und meine Urlaubserinnerungen an die hügelige Stadt mit den engen Gassen und dem imposanten Blick auf den Hafen weckte.
Auch wenn die Figuren ganz unterschiedliche Städte bereisen, so ist ihr wahres Reiseziel oft identisch: nur weg von zu Hause zu sein. Entweder um über sich und seine Zukunft nachzudenken, Abstand von seiner Familie zu haben oder vor dem Schmerz im Alltag zu flüchten. Doch was ist, wenn der Schmerz mitreist? Oder man kehrt zurück, fällt in seine alten Verhaltensmuster zurück und alles ist beim Alten? Die Geschichten zeigen uns, mit welchen Erwartungen Menschen in die Ferne aufbrechen und dass Reisen nach Außen stets einen Blick nach Innen nach sich ziehen.
Sehr herzerwärmend und zeitgemäß fand ich eine Geschichte, die in einem kleinen Dorf in der Pfalz spielt. Sie zeigt, dass man gar nicht weit reisen muss, um in unterschiedlichste Länder und Kulturen einzutauchen. Ist man offen für das Andersartige, beginnt die weite Welt gleich vor der Haustür.

Der Große Bericht
Was wäre, wenn man seine Umwelt nur noch in Mustern, Rastern und Algorithmen wahrnehmen würde? Eine ungefähre Vorstellung davon bekommt man in dem Roman „Satin Island“ von Tom McCarthy.
Dies beginnt bereits mit der Hauptfigur, die keinen individuellen Namen trägt. Sie nennt sich „U“, gleichklingend wie „You“, als sei die Figur übertragbar auf jede Person, den Leser eingeschlossen. Als Firmenanthropologe erforscht U die Menschheit im Auftrag einer Beratungsgesellschaft in London. Die Beschreibung einer Szene am Flughafen in Turin zeigt, dass sich seine Arbeitsweise und die beruflichen Gewohnheiten schon längst in seinen Alltag eingeschlichen haben. Während er auf einen verspäteten Flieger wartet, beobachtet er das Treiben um sich und scannt alle Informationen, die auf ihn herein prasseln, ab. Auf mehreren Bildschirmen werden Berichte von Ölkatastrophen übertragen, Kinder tollen um ihn herum, auf seinem Handy blinken Nachrichten aus dem Büro. Sein Sitznachbar spricht ihn in einem Mischmasch aus Französisch, Holländisch, Deutsch und Amerikanisch an. Reale Bilder und Fernsehaufnahmen verschmelzen dabei zu einer vielschichtigen Collage und U fühlt sich leicht überfordert.
Wenn sich schon so eine einfache Alltagssituation derart wirr für ihn darstellt, wie wird es ihm dann erst beim Koob-Sassen-Projekt ergehen? Bei diesem Auftrag soll er DEN Großen Bericht über die Menschheit schreiben, einen universales ethnografisches Werk, das das gesamte Zeitalter abbildet – das bedeutet, alle Daten zu katalogisieren, sie durch Skizzen, Diagramme und Muster in eine Ordnung zu bringen und das ganze Bild zu sehen. U weiß nicht so recht, wo er anfangen soll und stellt fest, dass allein die Klimaanlage in seiner Firma so umfassend ist, dass sie ein eigenes Buch verdient. Was der Protagonist im großen Stil betreibt, kennt man selbst im kleinen Maßstab. Ganz ähnlich ergeht es mir, wenn ich die ständig wachsende Zahl von Mails, Dokumenten und Fotos sichte, archiviere und versuche, ein System hineinzubringen.
Interessant fand ich den Gedanken, dass der große Bericht möglicherweise schon längst von einem binären System geschrieben wurde und dass es dafür keiner menschlichen Anstrengung bedarf. Ich bin bisher schon so einiges von Schriftstellern und Philosophen gelesen, die sich mit dem Sinn des Universums und des Lebens beschäftigen. Das Thema aus der Sicht eines Anthropologen zu betrachten, war trotz der fehlenden Handlung eine interessante Leseerfahrung.

Bilderbücher aus Stoff
Kissen, die mit Wunschmotiven bedruckt wurden, habe ich schon öfters gesehen. Eines prangt auf der Couch meiner Schwiegermutter. Noch origineller finde ich aber, wenn ein Kissen eine ganze Geschichte erzählt. Die Künstlerin Sylvia Benda macht es möglich. Aus dicht gewebten Patchworkstoffen und winzigen Stoffresten näht sie 50 mal 50 Zentimeter große Kissen, die sich wie ein Bilderbuch lesen.
Welche Geschichte das Kissen erzählt, liegt ganz im Auge des Betrachters. Mal sind Bilder von Tieren, Märchenfiguren oder Prinzessinnen zu sehen, kombiniert mit Bildern von Landschaften, Jahreszeiten oder Fahrzeugen. Bis zu 70 Einzelteilen sind in ein Kissen eingenäht und bieten reichlich Stoff, um die Fantasie anzuregen und eine spannende Handlung vor seinen Augen entstehen zu lassen. Vielbeschäftigte Eltern könnten ihren Kindern sicher auch mal ein Kissen mit Lieblingsmärchen als Ersatz für eine Gute-Nacht-Geschichte in die Hand drücken.
Sylvia Benda nähte ihre Geschichtenkissen hauptsächlich ehrenamtlich für krebskranke Kinder, verkauft sie aber auch hin und wieder auf kleinen Märkten. Wer möchte, kann sich von ihr ein Kissen mit seinem Wunschthema nähen lassen.

Schuld ist der Wind
Der neue Roman „Der Wind war es“ von Nataša Dragnić handelt von sechs jungen Menschen aus München, die in ein abgeschiedenes Dorf auf der kroatischen Insel Brač fahren, um ein Theaterstück zu proben. Doch schon bald wird der Ort zum Schauplatz realer Lebensdramen.
Von Anfang an erlebt man den Roman wie ein Kammerspiel. Die Laientheatergruppe nähert sich ihrem Reiseziel und lässt die Leser an ihrer ersten Begegnung mit der wilden Natur und der überwältigenden Landschaft teilhaben. Als sie sich im Gästehaus einrichten, sind ihre Rollen schnell verteilt: Anton ist nicht nur Regisseur des Stücks, sondern mimt auch innerhalb der Gruppe den Leiter und gibt allen zu verstehen, dass sie zum Arbeiten und nicht zum Vergnügen da sind. Für ihn steht am meisten auf dem Spiel, denn das Stück ist für ihn eine Chance, ein Stipendium und eine Stelle am Theater zu bekommen. Barbara, die Nichte der Gastgeberin, neigt dazu, alle zu bemuttern und sich für alles zuständig zu fühlen. Doch da gibt es auch noch einige Figuren, die ihre Rolle in dem Beziehungsgeflecht noch nicht recht gefunden haben: Lisa zum Beispiel, die sich zwischen zwei Männern nicht entscheiden kann, oder Katrin, deren Liebe unerwidert bleibt.
Als ein Fremdling und zwei unerwartete Gäste das Terrain betreten, beginnt das ohnehin labile Gefüge deutlich zu wackeln. Und als dann noch der Südwind Jugo über der Insel tobt, gerät alles aus den Fugen. "Der Wind war es". Treffender könnte der Titel des Romans nicht sein. Tatsächlich übernimmt der Wind für einige Zeit das Zepter, schlüpft förmlich in verschiedenste Rollen und zeigt sich als Feind oder als Verbündeter, als vereinende oder trennende Kraft zwischen den Figuren.
„Ist dieses Haus wirklich sicher?“ fragen die Künstler voller Sorge. Dabei möchte man vielmehr wissen, ob denn die Menschen voreinander sicher sind. Ihr Verhalten ist auf einmal willkürlich, unerklärlich, als hätte der Wind ihre blanken Gefühle freigelegt und jegliche Hemmschwellen weggefegt. Für meinen Geschmack war es etwas zu viel Gefühlsdrama. Dass sich die Charaktere so schnell zu einem oder gleich mehreren Personen hingezogen fühlen, nur weil sie sich in einem Ausnahmezustand befinden, erschien mir unglaubwürdig. Davon abgesehen bleibt das dynamische Wechselspiel zwischen Naturgewalten und Gefühlsausbrüchen, die zu einem tragischen Unglück führen, bis zum Schluss spannend. Vor allem die Sprache der Autorin ist atmosphärisch dicht und stimmig.
Am Rande des Irrsinns
Kann eine Serie ohne die Hauptfigur weitergehen? Ja, sie kann, wie die US-Serie „Homeland“ beweist. Am Ende der dritten Staffel ließ Drehbuchautor Alex Gansa den Protagonisten Nicholas Brody, gespielt von Damian Lewis, erhängen. Der Marine, der in Afghanistan nach acht Jahren Gefangenschaft befreit wurde und als vermeintlicher Kriegsheld zurückkehrte, entpuppte sich nämlich als Terrorist, der zum Feind übergelaufen war.
Erkannt hatte dies einzig und allein Carrie, eine bipolare CIA-Agentin, die ständig Gefahren wittert und das mit einer unglaublichen Treffsicherheit. Dass sie sich in Brody verliebte und ein Kind von ihm bekam, machte ihre Mission nicht gerade leichter. Doch was ist schon leicht in Carries Leben? Sie ist psychisch labil, leidet unter extremen Stimmungsschwankungen und putscht sich mit Medikamenten auf. Ihr irrer Blick kann einen noch tagelang verfolgen. Ihre variantenreiche Mimik, die in Sekundenschnelle ein strahlendes Lächeln in ein vor Wut und Verzweiflung verzerrtes Gesicht verwandelt, bringt wohl nur eine so einzigartige Schauspielerin wie Claire Danes zustande.
In der vierten Staffel übernahm sie die schwere Verantwortung, abzuwägen, wann und wie Ziele in Afghanistan angegriffen werden und die Collateralschäden dabei zu minimieren. Was ihr fatalerweise misslang und schwere Konsequenzen mit sich zog. In „Homeland“ passiert es nicht selten, dass man entsetzt ausruft „Das ist doch jetzt nicht wahr! Das können die doch echt nicht bringen?!“ Und ob sie können.
Aktuell ist auf Sat1 die fünfte Staffel zu sehen. Zum ersten Mal wurde dort gedreht, wo auch die Handlung spielt: in Berlin, und zwar an mehr als hundert verschiedenen Orten unter anderem in Potsdam, Nauen und Schönefeld. Als Kulisse dienten auch der Hauptbahnhof, das Rote Rathaus und das Kaffeehaus Grosz am Kurfürstendamm, was Erinnerungen an unsere Städtetour Anfang des Jahres weckt.
Ein Muster wiederholt sich auf markante Weise: Carrie will immer wieder aussteigen, doch dann passiert etwas Unfassbares und sie kann nicht anders, als der Sache nachzugehen. Gut so, denn die spannende Serie, die uns mit einem Cliffhanger nach dem anderen ködert, soll schließlich weitergehen.

Beatlemania in Norwegen
Auf eine doppelte Reise in die Vergangenheit, nämlich in die Teenagerzeit und in die 60er Jahre, entführt uns der Roman „Yesterday“ aus dem Jahr 1984 von Lars Saabye Christensen. Der Norweger gehört zu den bekanntesten Autoren in seiner Heimat. Für mich ein Grund mehr, Euch nach „Der Alleinunterhalter“ diesen Generationsroman vorzustellen, der im Zeitraum von 1965 bis 1972 spielt.
Im Mittelpunkt stehen die vier eng befreundeten Jugendlichen Kim, Seb, Ola und Gunnar, die vor allem eine große Leidenschaft teilen: die Musik der Beatles. Erzählt wird aus der Perspektive von Kim, der mit viel Humor, Ironie, aber auch melancholischen Tönen so manche Jugenderinnerungen weckt: Sportlehrer, die einen beim Bockspringen triezen, der peinliche Augenblick, in dem man vor der Klasse steht, abgefragt wird und hilflos seinen Blick aus dem Zimmerfenster schweifen lässt, das erste Date, der Streit mit den Eltern, Identitäskrisen etc.
Die vier Teenager machen jeder auf seine Weise ihre schmerzvollen Erfahrungen und entwickeln mit der Zeit unterschiedliche Interessen, doch kaum kommt eine neue Beatles-LP heraus, finden sie sich sofort zusammen und analysieren voller Ekstase jeden einzelnen Song. So bilden die Beatles-Songs den roten Faden durch den gesamten Roman.
Auch wenn der Roman hin und wieder Längen hat, genießt man durchgehend den unverwechselbaren Sprachstil Christensens. Ausdrücke wie „Unsere Ohren waren riesige Regenschirme“ oder „Der Sommer war wie ein Sprungbrett in alle Richtungen“ fand ich so treffend, dass ich die Gefühle der Figuren, auch wenn sie für mich nicht viel Identifikationspotenzial boten, richtig nachempfinden konnte. Der Erzähler bietet nicht nur tiefen Einblick in Kims Innenleben, sondern entwirft auch ein interessantes Bild von Oslo und den damaligen gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen.

Leseschnitzeljagd durch die Welt
Ich ging wieder einmal einer meiner Lieblingsbeschäftigungen nach und sortierte meine Bücher im Regal um. Für ein neues gutes musste ein altes weniger gutes weichen. Welcher Titel würde diesmal dran glauben? Mein Blick blieb bei „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ von Italo Calvino hängen. Wenn ich mich recht erinnerte, hatte mir dieses nicht besonders gefallen. Aber weshalb? Ich las die ersten Absätze und konnte nicht mehr aufhören. Ich beschloss, das Buch, das 1979 erschienen ist, ein zweites Mal zu lesen.
Witzigerweise beleuchtet der Autor – bevor er mit der eigentlichen Erzählung beginnt – genau diesen Prozess, den ich gerade beschrieb: Was bewegt den Leser dazu, zu einem bestimmten Buch zu greifen, es unter tausend anderen auszuwählen und mit der Lektüre zu beginnen? Calvino beschreibt nicht nur der Erwerb eines Buches in aller Ausführlichkeit, sondern bietet dem Leser eine Anleitung zum größtmöglichen Leseerlebnis. Dabei spricht er ihn direkt an, weiht ihn als einen engen Verbündeten in das gemeinsame Abenteuer ein, das ihnen bevorsteht.
Was dieses Buch von anderen unterscheidet: Der Leser hat nicht das Vergnügen, die Erzählung „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ zu Ende zu lesen. Durch einen Produktionsfehler einer Druckerei gerät er an eine unvollständige Ausgabe und begibt sich fortan auf die Suche nach der Fortsetzung. Der Leser wird praktisch zur Hauptfigur und landet gegen seinen Willen in einem völlig anderen Romananfang mit dem Titel „Von dem Weichbild von Malbork“. Erfahrungsgemäß ist der Einstieg in eine Geschichte eine der spannendsten Partien. Ist es da nicht reizvoll, lauter Romananfänge lesen zu dürfen – in diesem Buch sogar elf? Oder eher frustrierend, dass einem die Fortsetzung vorenthalten wird?
Calvino stellt allerlei Überlegungen zum Schreib- und Leseprozess an. Wäre das Schreiben nicht viel leichter, wenn man sich von seinem eigenen Stil, Geschmack, seiner Bildung und Erfahrung lösen könnte, sich praktisch entpersonalisierte? Und ist es die noch ungeschriebene Welt, die man zu Papier bringt oder sind die Dinge erst vorhanden, wenn sie geschrieben sind? Man mag es auslegen wie man will – originell ist Calvinos Verwirrspiel und seine Schnitzeljagd durch die halbe Welt allemal, bei der wir unter anderem verzweifelten Autoren, üblen Übersetzern, Finanzbossen von der Wallstreet bis hin zu Fälschern aus Japan begegnen.

Enjoy your flight
Mein Onkel wollte schon als Kind unbedingt Pilot werden. Und ist es auch geworden. Nachdem ich die japanische Serie „Good Luck“ gesehen habe, konnte ich mich ein wenig in ihn hineinversetzen. Die Serie handelt von einem jungen Mann, der gerade seine Pilot-Ausbildung abgeschlossen hat und sich zunächst als Co-Pilot bewähren darf. Eine seiner häufigsten Routen führt vom Narita Flughafen in Tokio nach Honolulu. Er liebt das Fliegen und kann sich keinen anderen Beruf vorstellen – auch dann nicht, als ein schwerer Unfall seine Laufbahn in Frage stellt. Die Serie mag sich mancher Klischees bedienen, doch ich war überrascht, welch umfassenden Einblick ich in die Arbeit einer Fluggesellschaft bekam.
Wann kann man schon einem Piloten so genau über die Schulter schauen, jeden Handgriff beim Abflug und der Landung verfolgen und lernen, warum der Pilot bei einer Notlandung gerade die Entscheidung von mehreren Optionen getroffen hat und nicht eine andere. Vom Cockpit über die Cabin Crew, von der Flugaufsicht bis hin zur Sicherheitskontrolle – jeder Arbeitsbereich wird näher unter die Lupe genommen und zeigt anhand verschiedener Charaktere sowohl typische als auch ungewöhnliche Herausforderungen im Berufsalltag.
Auch das ausgeprägte Hierarchiedenken in japanischen Unternehmen und die typische Rollenverteilung zwischen dem untergebenen Kôhai und dem berufserfahrenen Senpai wird verdeutlicht. Nun kann ich mir auch vorstellen, wie der Arbeitsalltag meiner Muter aussah, als sie eine Zeit lang beim Bodenpersonal der Cathay Pacific Airline arbeitete. Inwieweit die Serie die Realität widerspiegelt, kann ich schwer beurteilen, doch den nächsten Flug werde ich sicher anders – vielleicht bewusster – erleben als zuvor.

Wer willst du sein?
Wie sehr die innere Einstellung und die eigenen Gedanken das tägliche Leben beeinflussen – damit haben sich schon zahlreiche Autoren und Wissenschaftler befasst. Eckhart Tolle oder Richard Hanson zum Beispiel beschreiben sehr einleuchtend, welche Macht die eigenen Gedanken auf die erlebte Realität haben können. Insofern war mir die Message „Wie Innen, so Außen“ der Autorin Nina Nell nicht neu für mich. Trotzdem hat mich ihr Buch „Euphoria – das Spiel“ begeistert und zwar deshalb, weil sie eine Komponente hineinbringt, die ich vernachlässigt hatte: die Gefühle. Ich bin ein ziemlich ausgeglichener Mensch und lasse mich nicht so leicht aus der Fassung bringen. Damit bin ich im Alltag gut gefahren, doch nachdem ich die drei Spielregeln von Nina Nell – Akzeptanz, Absichtslosigkeit und Glücksgefühle – kennengelernt habe, verstehe ich, warum ich bei vielen Aufgaben oder Projekten einfach nicht weiterkam. Ich war viel zu zielbesessen und hatte dabei die nötige Leichtigkeit verloren. Nina Nell hat völlig Recht: Alles, was mir großen Spaß bereitete und mir leicht von der Hand ging, gelang mir viel besser als Dinge, hinter denen harte Arbeit steckte.
Manche können vielleicht den ganzen Hype um das Thema Glück und die Glücksforschung nicht mehr hören. Für mich dagegen ist ein gut geschriebenes und nachvollziehbares Buch wie dieses von Nina Nell motivierender und wirksamer als jedes Seminar oder jede Glücksdroge. „Jedes Glücksgefühl ist ein anderer Ausdruck für Einheit“ ist nur einer von vielen Sätzen, der meiner Meinung nach genau ins Schwarze trifft. Erst neulich habe ich mich nach einer Tanz- und Saunastunde so gut gefühlt, dass ich jeden auf der Straße hätte anquatschen und die ganze Welt umarmen können. Nun verstehe ich auch warum. Und was spricht dagegen, sein Leben darauf auszurichten, sich so oft wie möglich in diesen euphorischen Zustand zu versetzen? Um die Spielregeln noch anschaulicher zu vermitteln, hat Nina Nell eine fiktive Geschichte in fünf Bänden herausgebracht. Sie handelt von Lucy Meier, die nach Lumenia, eine von Göttern bewohnte Welt, katapultiert wird, ein Abenteuer nach dem anderen durchlebt und völlig neue Dinge über die Realität erfährt. Bisher habe ich den ersten Band gelesen. Mich persönlich hat jedoch die Spieleanleitung noch stärker angesprochen.

Schritt für Schritt zum Ziel
Das erste Vierteljahr verging mal wieder wie im Flug. Alle, die sich für dieses Jahr bestimmte Ziele gesetzt haben – zum Beispiel ein Buch zu schreiben, eine neue Sprache zu lernen oder mehr Ausflüge zu unternehmen – könnten jetzt die Gelegenheit nutzen, ihre Vorsätze zu prüfen. Wo stehe ich gerade? Habe ich meine Zwischenziele erreicht oder muss ich meinen Plan revidieren?
Geht es um das Thema Ziele, hört man oft den Begriff „.S.M.A.R.T.“. Er besagt, dass Ziele spezifisch, messbar, aktionsorientiert, realistisch und terminiert sein sollen. Auch der Autor S.J. Scott schwört auf „S.M.A.R.T. Goals made simple“ in seinem gleichnamigen Buch. Dabei geht er äußerst systematisch vor: Er empfiehlt, zunächst seine Lebensziele zu formulieren und diese herunterzubrechen auf einen 5-Jahres-Plan, Jahresplan und Quartalsplan. Im nächsten Schritt zeigt er anhand vieler praktischer Beispiele, wie man die Ziele in ein konkretes Projekt und in einen Aktionsplan umwandelt.
Ich habe schon viel zu dem Thema gelesen und konnte trotzdem neue Anregungen mitnehmen: zum Beispiel den Tipp, beim Brainstorming in 5 bis 7 Minuten so viele Ideen wie möglich zu einem Thema aufzuschreiben und diese mit Unterideen, Farben und Symbolen zu versehen, um neue Assoziationen zu wecken. Oder sich zu Beginn des Tages den drei „MIT“s (Most Important Tasks) zu widmen. Im Grunde geht es ja darum, eine tägliche Routine zu finden, mit der man im besten Fall automatisch auf sein Ziel zusteuert. Ziele in Gewohnheiten umzuwandeln – daran muss ich wohl noch arbeiten, statt ständig neue Listen zu erstellen oder zu überarbeiten.

Ein Hut geht auf Reisen
Manchmal bedarf es nur einer Kleinigkeit, um seinem Leben eine entscheidende Wendung zu geben. Zum Beispiel einen fremden Hut. Genau das erleben vier Charaktere in dem zauberhaften Roman „Le chapeau de Mitterand“ („Der Hut des Präsidenten“) von Antoine Laurain, der in den 80ern spielt.
Hätte der französische Staatspräsident François Mitterand eines Abends in einer Brasserie nicht seinen schwarzen Filzhut vergessen, wäre die Geschichte sicher ganz anders verlaufen. Und genau um die beliebte Frage „Was wäre wenn?“ geht es Antoine Laurain in seiner episodenhaften Erzählung. Eine tolle Idee, den Hut quer durch Paris von einem Besitzer zum nächsten wandern zu lassen und unerwartete Geschehnisse in Gang zu setzen.
Allein der Augenblick, in dem die jeweilige Figur Besitz von dem fremden Hut ergreift, ist spannend. Oft ist es ein Impuls von wenigen Sekunden, der weitreichende Folgen haben wird. Sobald der neue Besitzer den Hut aufsetzt, geschieht etwas Merkwürdiges mit ihm. Er fühlt sich beflügelt, einen mutigen Schritt zu wagen, aus sich hinauszuwachsen und sein Leben zu verändern. Der Autor spinnt die Geschichte wendungsreich weiter und lässt die Besitzer sogar miteinander in Kontakt treten.
Der Roman versprüht einen typisch französischen Charme. Die Bedeutung des Zufalls und die Leichtigkeit, mit der Antoine Laurain die ‚Reise’ des Hutes beschreibt, erinnern an die Liebesreigen, die einem aus französischen Komödien bekannt sind. Themen wie Liebe, Untreue, die Kreation eines Parfums oder der Verzehr einer Meeresfrüchte-Platte tragen dazu bei, dass man während der Lektüre Frankreich und das Savoir-vivre mit allen Sinnen spüren kann. Ganz nebenbei erfährt man interessante Hintergründe über die französische Politik, Kunst und Gesellschaft der damaligen Zeit.